Deutsches Theater Berlin:Gedankenbeschleunigung

Die Politiker

Die Sonne ist aufgegangen: Cordelia Wege beim "Politiker"-Monolog, der den "Lear"-Abend beschließt.

(Foto: Arno Declair)

Sebastian Hartmann übernimmt sich mit Shakespeares "Lear". Dass der Abend dennoch zum Jahresereignis wird, liegt an der angeschlossenen Uraufführung von Wolfram Lotz' Stück "Die Politiker".

Von Peter Laudenbach

Sebastian Hartmann liebt Nebel, den Nebel auf der Bühne und den begriffsunscharfen Nebel der Metapher. An beiden fehlt es nicht in seiner Inszenierung zur Spielzeiteröffnung am Deutschen Theater Berlin.

Hartmann verbindet einen Assoziationsreigen zu Shakespeares "King Lear" mit der Uraufführung eines grandiosen, hier als Gedankenbeschleunigungsmonolog uraufgeführten neuen Textes von Wolfram Lotz, dem Dichter und Sprachskeptiker unter den Gegenwartsdramatikern (SZ vom 2. September). Es dürfte die Uraufführung des Jahres sein.

Doch bis es soweit ist, muss man durch zwei Stunden "Lear"-Bildergarten: Viel Nebel, schön schrille Kostüme mit Glitzer und Sex-Appeal und einem Beigeschmack von Karneval (Kostüme: Adriana Braga Peretzki). Als großes Rätselzeichen, wie sie Hartmann als sein eigener Bühnenbildner gerne auf die Spielfläche wuchtet, dient ein still stehendes Windrad, eine Windmühle aus Neonröhren.

Vielleicht ist es ein Verweis auf das im Eingangsmonolog erwähnte "Rad", das sich mit Sterben und Erben weiterdreht zur nächsten Generation. In der Literatur zu Shakespeare spielt die Rad-Metapher seit Jan Kott bekanntlich eine prominente Rolle, wenn es um die Mechanik blutiger Machtwechsel geht.

Die Lear-Totentänzer gehen ab wie Gespenster. Und dann wird es spannend

Lear, der alte König, der sein Reich unter seinen drei Töchtern aufteilen und mit dem Erbe in einer finalen Machtgeste noch einmal Zuneigung und, in seinem Fall davon kaum unterscheidbar, Unterwerfung erzwingen will, liegt schon im letzten Krankenhausbett. Was wir sehen, ist sein Fieber- und Komatraum am Rande des Exitus. Hartmann hat den sterbenden Familienkönig in zwei stumme Palliativstationspatienten im Anstaltshemd verdoppelt (Michael Gerber und Markwart Müller-Elmau). Die Töchter (eine großartige Linda Pöppel, Natali Seelig, Birgit Unterweger) variieren in ihren Tänzen um das Totenbett Versuche von Abstand und Annäherung.

Das changiert von einem Was-ich-dir-schon-immer-sagen-wollte-Redeschwall über Restzärtlichkeit und manchen Schuldgefühlen angesichts des hilflosen Greises bis hin zu Mordfantasien, in denen der Alte im Bett umstandslos und mit Freude am großen Auftritt wie in einer Opernszene erwürgt wird.

Weil wir jedoch bei Sebastian Hartmann immer auch im Macker-Theater sind, zieht eine der Töchter (Birgit Unterweger) ihr rotes, elegantes Abendkleid aus und steigt nackt zum Sterbenden ins eben jenes Krankenhausbett. Shakespeares Tragödie wird, wie immer bei Hartmann, zu einigen breit variierten Motive reduziert - in diesem Fall sind es die Qualen und Querelen unerlöster Vater-Tochter-, Eltern-Kind-Beziehungen. Vieles bleibt wirr.

Da mit dem Tod eines Menschen immer auch eine Welt untergeht, und weil man im Theater notfalls alles mit allem verrühren kann, muss die arme Natali Seelig zu einer Anklagerede über Klimawandel und das Ende der Zivilisation anheben. Die Anklage- und Ausrufezeichen-Sätze surfen zu den Verbrechen des Kolonialismus, zu den Kriegen in Somalia und Vietnam, zur Ermordung Martin Luther Kings, zu Dachau und Auschwitz.

Hartmann macht Menschheitsverbrechen zu Signalreizen, um seine konfuse Inszenierung mit der Simulation von ein wenig Bedeutung und Tiefsinn zu versehen.

Die Lear-Totentänzer gehen ab wie Gespenster. Und dann wird es spannend.

Die Neonröhren der erstarrten Windmühle leuchten gelb, eine Sonne. Cordelia Wege, eine Ausnahmeschauspielerin, sitzt im silberstrassgeschmückten Schwarzen an der Rampe. Sie rast, denkt, fiebert sich hochkonzentriert und gleichzeitig sehr lässig durch das Gedicht "Die Politiker" von Wolfram Lotz. Es ist ein überwacher Bewusstseinsstrom, in dem sich Kindheitserinnerungen, Selbst- und Weltbeobachtung, Momente der wahren Empfindung des schreibenden und sich in der Sprache und ihren Beschwörungsformeln festhaltenden Ich durchkreuzen.

Man darf einem Mensch dabei zusehen, wie er denkt, wie er sich im eigenen Denken bewegt und verliert und herstellt, wie er die Welt da draußen, das, was sie mit uns macht, und die Labyrinthe im eigenen Inneren durchmisst, verarbeitet, auflöst und wie das immer weitergeht. Die rhythmisch und refrainartig angerufenen "die Politiker, die Politiker, die Politiker", sind vielleicht die Eltern dieses Ich, Stellvertreter des Realitätsprinzips der Außenwelt. Das ist dramaturgisch verwandt mit Handkes frühen Sprechstücken. Im manischen Selbstgespräch, dem Aufbewahren von Wirklichkeitssplittern in der Sprache erinnert es an die Langgedichte von Rolf Dieter Brinkmann. So geistesklar und präsent wie Cordelia Wege das spielt, ist es die beste bewusstseinserweiternde Droge, die derzeit im Theater zu haben ist.

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