Sankt Petersburg in Russland:Ein bisschen Freiheit

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Bis 2004 war Nowaja Gollandija militärisches Sperrgebiet. Jetzt kann man hier vor der Freilichtbühne sitzen oder im Gras liegen und dabei Konzerte hören oder Filme ansehen. (Foto: Egor Lebedev)

Auf der Insel Neu-Holland, einem ehemaligen Sperrgebiet mitten in Sankt Petersburg, erholen sich die Menschen nicht nur vom Alltag.

Von Lars Reichardt

Der Mann, den man seit einem Vierteljahrhundert Oligarch nennt, trägt zu Sneakers und Jeans ein graues T-Shirt mit den Umrissen einer faustgroßen Möwe auf der Brust, als er die Premiere seines neu gegründeten Filmfestivals in Sankt Petersburg besucht.

Die Möwe ist ein neu eingeführtes Logo einer 290 Jahre alten Insel in der Stadt mit den vielen Kanälen: Nowaja Gollandija, Neu-Holland, hat sie Peter der Große genannt, die Marine baute auf ihr eine Werft und ein Holzkontor, seit 2004 war die Insel verlassen, obwohl sie nur eine Viertelstunde zu Fuß von der Isaakskathedrale entfernt liegt, ganz nah an der historischen Altstadt.

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Roman Abramowitsch, der Mann mit der Möwe auf dem T-Shirt, hat auf ihr eine Art öffentlichen Kulturpark errichten lassen, der seit 2016 das ganze Jahr über geöffnet hat: mit Liegewiese zwischen Kräutergarten, Boule-Bahn, Kiosk, Skulpturen und wechselnden Installationen, einer Freilichtbühne für Konzerte, Theatervorstellungen oder Filmvorführungen.

Im Winter wird der Rasen eingerollt und die Liegewiese in eine riesige Schlittschuheisfläche verwandelt. Die Kulturstiftung von Abramowitschs Ex-Partnerin Darja Schukowa kümmert sich um alles, was mit Kunst auf der Insel zu tun hat.

Etwa 100 Zuschauer, geladene Gäste wie auch Laufpublikum, verfolgen den Spielfilm auf bequemen Metallstühlen, wie man sie aus den Tuilerien in Paris kennt. Einige Zuschauer liegen am Rand im Gras. Kaum einer aber dreht sich nach Abramowitsch um, als er auftaucht. Sicher, der Film ist gut, aber so oft lässt sich der Oligarch, der inzwischen auch die israelische Staatsbürgerschaft angenommen hat, nun auch nicht in Sankt Petersburg blicken.

Bitte ihren Chef nicht ansprechen oder fotografieren, haben Marketing-Mitarbeiter zuvor gebeten. Er stellt sich mit neuer Freundin an den Rand, ohne großes Aufheben um sich zu machen. Seine Personenschützer bleiben im Hintergrund.

Den Sommer über haben im Park mehr als 300 Veranstaltungen stattgefunden. Picknicken darf man hier auch heute noch. (Foto: Katya Nikitina)

Roman Abramowitsch trägt die T-Shirts mit Möwe auch zu anderen Anlässen an anderen Orten. Beim Filmfest in Sotschi hat er sich damit fotografieren lassen. Er ist, das darf man getrost vermuten, stolz auf seine Insel. Ein paar Minuten bleibt er auf dem frisch gemähten Rasen neben den Stuhlreihen stehen, um einige Szenen auf der Leinwand zu verfolgen.

Der Kinofilm wurde von einem in die USA ausgewanderten Russen gedreht, es ist eine Komödie, die von Exilrussen in Milwaukee handelt. Er heißt "Give Me Liberty", und natürlich eröffnet man ein Filmfestival nicht zufällig mit einem Film, der diesen Titel trägt. Es scheint, Freiheit soll ein Leitmotiv für die Insel darstellen.

Es gab Proteste von Anwohnern, als Abramowitsch im Jahr 2010 die Ausschreibung um die 7,8 Hektar große, dreieckig geschnittene Insel inmitten einer vergleichsweise günstigen Wohngegend gewann. Angst vor Gentrifizierung. Die Gebäude auf der Insel waren verfallen, der Platz zwischen den Ruinen als Picknickort beliebt, seitdem die Marine die Insel der Stadt übergeben hatte. Bis 2004 war sie militärisches Sperrgebiet.

Anfangs hatten Anwohner Angst vor Gentrifizierung. Die Gebäude auf der Insel waren verfallen, der Platz zwischen den Ruinen als Picknickort beliebt. Doch jetzt wird der Park gut angenommen. (Foto: Katya Nikitina)

Millhouse LLC, die Investmentfirma Abramowitschs, hat 400 Millionen Dollar in den Umbau investiert und schrieb einen Architekturwettbewerb aus. Die historischen Gebäude und Plätze wurden von einem westlichen Architekturbüro stilgetreu restauriert und modernisiert, neue Holzgebäude wie Kiosk und Bühne gut integriert, moderne Toilettenanlagen unter einem kleinen Zugang in der Erde versteckt.

Die deutsche Spielgerätefirma Richter hat rund um einen Schiffsrumpf einen Kinderspielplatz gebaut, in der ehemaligen Kommandantur entstand eine Kunstschule für Teenager mit Schnittstudios, für die Darja Schukowas Kulturstiftung Stipendien vergibt. Im vergangenen Jahr wurde das Ensemble mit einem europäischen Architekturpreis ausgezeichnet.

Die deutsche Spielgerätefirma Richter hat rund um einen Schiffsrumpf einen Kinderspielplatz gebaut. Und in der ehemaligen Kommandantur entstand eine Kunstschule für Teenager. (Foto: Katya Nikitina)

Mit den Kulturveranstaltungen und dem öffentlichen Raum zwischen Läden und Büros scheinen die Vorbehalte gewichen zu sein. Heute sind die Restaurants mit georgischer oder israelischer Küche ausgebucht und alle Kleider- und Design-Geschäfte im ersten Stock belegt - hier war einst ein Gefängnis mit 250 Zellen. Mehr als 300 Veranstaltungen werden zwischen Mai und Ende September auf der Insel stattgefunden haben. Picknicken darf man auch noch.

Öffentliche Parks sind selten in russischen Metropolen. Die Insel erinnert an die High-Line-Anlage in New York, nur dass man sich in westlichen Kulturparks schwer tun dürfte, so gepflegte Grünflächen zu finden. Auf Neu-Holland wird noch gebaut. Im kirchturmhohen Holzlager, einst berühmt dafür, dass man die Baumstämme senkrecht darin lagern konnte und so beim Schiffsbau schnell den geeigneten Stamm fand, entstehen Büros. Es heißt, auch das Garage Museum of Contemporary Art aus Moskau werde hier ein Archiv und eine Dependance bekommen, in der zeitgenössische russische Kunst gezeigt wird.

Die Insel ist nicht das einzige Projekt des inzwischen getrennten Paares Abramowitsch/Schukowa. Gemeinsam haben sie bereits 2008 das größte private Kunstmuseum in Moskau gegründet: Garage wurde es benannt nach dem ersten Standort, aber Rem Koolhaas hat dafür vor sieben Jahren einem alten Industriegebäude eine neue Hülle im Gorki-Park verpasst.

Der berühmte Gorki-Park hat lange definiert, was öffentlicher Raum in der Sowjetunion zu bedeuten hat: "Fabrik des glücklichen Menschen". Der Kulturpark sollte Arbeiter zu Patrioten erziehen und diente morgens zur Leibesertüchtigung zwischen Blumenrabatten.

Viele russische Städte haben einen Gorki-Park, in dem seit Stalin Aufmärsche stattfanden, gepicknickt und Schlittschuh gelaufen wurde. Erst nach der Ära Chruschtschow erholte man sich nicht mehr kollektiv. In den Neunzigerjahren kampierten im Gorki-Park in Moskau obdachlose Gastarbeiter, nachts galt er als unsicher.

Vorbild ist der Gorki-Park in Moskau. Hier tanzen die Menschen im Sommer am Ufer der Moskwa. (Foto: Ekatarina Anokhina/n-ost)

Zum 90. Jahrestag seiner Gründung im vergangenen Jahr hat man ihn renoviert, Sport findet jetzt auf modernen Volleyballplätzen, beim Yoga oder Skaten statt. Wlan gibt es gratis. Nach dem Muster werden viele Kulturparks in Russland umgestaltet. Es scheint, der moderne Kulturpark soll eher zur Entpolitisierung erziehen.

Im Gorki-Park vergibt Schukowas Kulturstiftung halbjährliche Stipendien für 18 Künstlerateliers, hier werden Konzerte und Vorträge im Museum veranstaltet. Es gibt einen eigenen Garage-Verlag, der einige Standardwerke für zeitgenössische Kunst ins Russische übersetzen lässt. Das Museum zeigt vereinzelt Arbeiten von Regimekritikern wie Artjom Loskutow oder Pussy Riot. Bis Dezember liegt eine Collage aus, die die ersten elf Titelseiten der Prawda nach Tschernobyl zeigt - erst zwölf Tage nach dem Atomunfall berichtete die sowjetische Tageszeitung darüber.

Das Museum gilt als weitgehend souverän und unabhängig. Die Freiheit im Gorki-Park hat allerdings Grenzen: Die kurz installierte Speaker's Corner wurde wieder aufgelöst. Der in New York lebende russischstämmige Kunsthistoriker Michail Jampolsky spricht davon, dass der moderne russische Kulturpark als Ventil dient, in dem Angehörige der Mittelklasse auch oppositionelle Kultur schnuppern dürften.

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Der Gorki-Park wird angenommen. Auch in einer Zeit, in der in der Stadt gegen die Nichtberücksichtigung von Kandidaten der Opposition bei der Kommunalwahl Anfang September demonstriert wird, sieht man hier entspannte Gesichter. Im Park sind zwei junge Männer zu sehen, einer hat zärtlich den Arm um die Schulter des anderen gelegt - ein seltener Anblick. Auf Moskaus Straßen seien Schwule Freiwild, die Gefahr liefen, von Polizisten schikaniert zu werden, erzählt ein Museumskurator. Im Park herrsche ein liberaleres Klima als auf den Straßen ringsum.

In Sankt Petersburg ist nicht die Polizei für den Park zuständig - ein privater Sicherheitsdienst passt auf, dass Besucher kein Bier mitbringen, dass man nur in ausgewiesenen Zonen raucht und um 23 Uhr den Kulturpark wieder verlässt. Die Sicherheitskräfte sind gebrieft und geschult.

Sie hätten Anweisung, Schwule nicht zu belästigen, erzählt eine Angestellte, "natürlich weiß Roman davon". Mag sein. Den Menschen dürfte es auch weitgehend egal sein, warum Abramowitsch sie sich auf der Insel freier bewegen lässt und ob er dies im Einklang mit Wladimir Putin tut. Die Kulturparks waren diesen Sommer voll.

Touristen können vom 1. Oktober an leichter nach St. Petersburg reisen. Ein kostenloses E-Visum berechtigt zu einem achttägigen Aufenthalt. Erst vier Tage vor Anreise muss es beantragt werden. Das Programm von New Holland Island findet man auf: www.newhollandsp.ru/en

© SZ vom 05.09.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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