Dirigentenabschied:Innere Bewegtheit

Das letzte Konzert des 90-jährigen Dirigenten Bernard Haitink beim Lucerne Festival mit Beethoven und Bruckner.

Von Helmut Mauró

Er sprach zwar mit holländischem Humor von einem Sabbatical, aber wenn man ihn an diesem Abend im KKL erlebt hat, dem architektonisch und akustisch wunderbaren Saal des Kultur- und Kongresszentrums von Luzern, dann konnte man davon ausgehen, dass dies sein letztes Konzert war. Der niederländische Dirigent Bernard Haitink hatte dafür, eingebettet in das laufende Lucerne Festival, die Siebte Symphonie von Anton Bruckner aufs Programm gesetzt sowie Ludwig van Beethovens Viertes Klavierkonzert. Vor 13 Jahren hat er alle Beethoven-Konzerte zusammen mit Murray Perahia und dem Concertgebouw Orkest auf CD veröffentlicht (Sony). Auch diesmal war Perahia eingeplant, erkrankte aber vor ein paar Wochen, deshalb spielte jetzt Emanuel Ax.

Was sich leider nicht unbedingt als Glücksgriff erwies. Vielleicht hätte man doch einen jüngeren Kollegen, gar einem Unbekannten eine Chance geben sollen. Ax ist kommt zwar noch nicht an das biblische Alter Haitinks von 90 Jahren heran, wirkte mit seinen 70 Jahren aber auch nicht viel viriler als Haitink, der sich auf einen Stock gestützt unter großem Beifall in Richtung Podium bewegte. Und als müsse er das Publikum vom Gegenteil überzeugen, versuchte Ax virtuose Abschnitte und Akkordfolgen herauszustellen und allerlei, leider mit viel Altherrenschlamperei gespickte Geschwindigkeitsläufe auf der Tastatur zu absolvieren. Was so ziemlich das Uninteressanteste an Beethovens Viertem Klavierkonzert ist.

Dirigentenabschied: Bernard Haitink kann selbst die Wiener Philharmoniker ohne diktatorischen Habitus beeinflussen und leiten.

Bernard Haitink kann selbst die Wiener Philharmoniker ohne diktatorischen Habitus beeinflussen und leiten.

(Foto: Lucerne Festival / P. Ketterer)

Selbst die Wiener Philharmoniker verfielen dabei immer wieder in einen spannungslosen mulmig-murmelnden, mitunter auch murrenden Hintergrundklang. Und dies, obgleich man sich für dieses Klavierkonzert kein passenderes Orchester hätte wünschen können. Was freilich auch für Anton Bruckners große E-Dur-Symphonie gilt, die Siebte, zumal mit Bernard Haitink am Pult. Die Wiener schätzen ihn als Bruckner-Dirigenten, weil sie bei ihm ihre Klangtradition leben dürfen und nicht fürchten müssen, dass der Dirigent andere Vorstellungen durchsetzen will. Tatsächlich ist dies eine Grundeigenschaft, die Haitink auszeichnet: Dass er mehr gewähren lässt und sich um den Rahmen kümmert, als selber aktiv künstlerisch einzugreifen. Nicht alle Musiker schätzen das, viele wollen geführt werden. Als er 1961 zum Chefdirigenten eines der legendärsten Weltklasseorchester, des Amsterdamer Concertgebouw Orkest, ernannt werden sollte, regte sich Unmut im Orchester. Man brachte dann Eugen Jochum als zweite Hälfte einer Doppelspitze ins Spiel und konnte so die Gemüter beruhigen.

Doch trotz seiner mehr als sechzigjährigen Dirigententätigkeit und einem Repertoire, das von Bach bis in die Gegenwart reicht, mit seinem Schwerpunkt im 19. Jahrhundert, hat er sich bei aller damit einhergehender künstlerischer Entwicklung in seiner Grunddisposition nicht verändert. Für ihn sind die ausführenden Musiker entscheidend. Was sie denken und empfinden, welche Traditionen sie pflegen, welchen Klang sie im langjährigen Miteinander entwickelt haben. Haitink war der Liebling aller selbstbewusst agierenden Orchester, ob es nun das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks ist oder die Wiener Philharmoniker.

Ein wie natürlich sich ergebender hochdifferenzierter spannungsgeladener Klangzustand, wie ihn die Wiener Philharmoniker hier zustande brachten, bedurfte keiner harten Hand Haitinks

Erstaunlicherweise konnte er sich mit seiner Haltung schon Anfang der 1960er Jahre durchsetzen, als die Abwesenheit von Gewalt, die antiautoritäre Grundhaltung in Erziehung und auch in der Orchestererziehung noch als komplette Fehlleistung und Inkompetenz galt, die den Untergang des Abendlandes beschleunigte. Doch Haitink setzte sich beim Concertgebow sowohl gegen Jochum durch, als auch später gegen George Szell, den man als zweiten Dirigenten berufen hatte, und wurde alleiniger Chefdirigent. Wie sehr man ein Orchester aber auch ohne diktatorischen Habitus beeinflussen und leiten kann, zeigte Haitink an diesem Abend nahezu exemplarisch.

Auch wenn körperliche Einschränkungen seinen Aktionsradius mitunter beschränkten - ein Hocker zum Anlehnen half ebenso wie ein Pult zum Aufstützen, so schien dies im Zusammenhang seines dirigentischen Grundkonzeptes bei weitem nicht so bedeutend wie bei anderen Dirigenten. Der Streichergruppe der Wiener muss man nicht jeden Einsatz vorgeben, aber auch die Bläser, insbesondere die Holzbläser, die schon bei Beethoven angenehm aufgefallen waren, zeigten ein enormes Gespür für die richtige Klangbalance. Für das große Blech, bei Bruckner immer prominent vertreten, ist die Integration in einen großen runden Orchesterklang ja noch schwieriger, und sie gelang an diesem Abend wie von selbst. Jedenfalls musste Haitink dabei kaum korrigieren.

Andere Grundbedingungen eines starken Orchesterklangs, etwa die kraftvollen tiefen Streicher, kann ein Dirigent kaum beeinflussen, selbst wenn der ein oder andere dies dem Publikum am Konzertabend weismachen will. Und wenn dann alles zusammenkommt und in einem lang gezogenen Crescendo inklusive Paukenwirbel endet, dann stellen sich Überwältigungseffekte ein, die einerseits etwas simpel strukturiert erscheinen, andererseits in der Kulmination einer hoch entwickelten Orchesterklangkultur eine tiefere, umfassendere musikalische Sinnfälligkeit erreichen. Es ist dann keine vordergründige Überwältigungsmusik mehr, auch kein trickreicher Übergriff ins Unbewusste, sondern der Auslöser einer inneren Bewegtheit, die nicht nur zeitlich über das konkret Gespielte hinausgeht.

Solche Momente können, zumal bei schlechteren Orchestern, von einem Pulttyrannen zu einem gewissen Grad erzwungen werden, aber ein wie natürlich sich ergebender hochdifferenzierter spannungsgeladener Klangzustand, wie ihn die Wiener Philharmoniker hier zustande brachten, bedurfte keiner harten Hand Haitinks. Der wurde, natürlich, mit dankbaren Ovationen verabschiedet.

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