Neuer Roman von Terézia Mora:Am Rand des Kraters

Zum Abschluss der Darius-Kopp-Trilogie schickt Terézia Mora ihren Computer-Nerd an den Nullpunkt seines Lebens.

Von Helmut Böttiger

Auch IT-Spezialisten stürzen schnell ab. Darius Kopp, der Held in Terézia Moras Roman, hätte sich ein paar Jahre vorher wohl nicht träumen lassen, dass er sich jetzt in Catania als Pizzabäcker durchschlägt, in der Wohnung eines todkranken alten Deutschen Unterschlupf finden muss und jeden Cent umdreht. Die Autorin hat mit dieser Figur bereits großen Erfolg gehabt, sie hat mit ihm 2013 den "Deutschen Buchpreis" erhalten und 2018 nicht zuletzt durch ihn auch den Büchnerpreis. Darius Kopp ist ein Medium, das die Zeiten durchdringt und schon durch seinen Beruf für die absolute Gegenwart steht.

"Auf dem Seil" ist der letzte Band einer Trilogie, die diesem Experten für drahtlose Netzwerke gilt, und er steht in gewisser Weise auch für einen Balanceakt der Autorin. Man muss die beiden vorangegangenen Romane "Der einzige Mann auf dem Kontinent" und "Das Ungeheuer" nicht unbedingt gelesen haben, um die aktuellen Wendungen seiner Geschichte mitverfolgen zu können. Aber um die Fallhöhe zu ermessen, auf der sich das Ganze bewegt, wäre es doch von Vorteil. Wer die ersten beiden Bücher nicht kennt, wird sie sich nach diesem dritten Band auf jeden Fall noch vornehmen. Obwohl in "Auf dem Seil" die Vorgeschichte Darius Kopps, wie in einem mit Andeutungen und Geheimnissen operierenden Krimi, natürlich langsam enthüllt wird: seine hoch bezahlte Tätigkeit als einziger Vertreter der US-Firma Fidelis Wireless in Berlin, der Suizid seiner Frau Flora und der Abbruch sämtlicher Beziehungen danach, seine anschließende rastlose Tour durch Osteuropa mit der Asche seiner Frau. Wir treffen ihn nun am Beginn des Romans auf Sizilien an, wo er scheinbar endgültig gestrandet ist. Hier findet er auch den Ort, an dem er die sterblichen Überreste seiner Frau bestatten kann: am Rand eines Kraters im Gebiet des Ätna, bei einem vom Blitz getroffenen Baum - es ist das symbolische Bild, nach dem er jahrelang gesucht hat.

Wie Robert Musils Ulrich ist auch dieser Darius jemand, durch den die Zeitstimmungen hindurchgehen

Darius Kopp ist ein merkwürdiger Held, einer von denen, die zu sofortiger Identifikation einladen, ist er nicht: fahl und dick, ein Nerd, von dessen Innenleben man nur indirekt etwas erfährt in den einfachen, aber raffinierten Sätzen Terézia Moras, in denen unvermittelt von der ersten in die dritten Person gewechselt werden kann und wieder zurück. Das schafft eine flirrende, spannungsreiche Atmosphäre, transportiert ein Gefühl des Nicht-Greifbaren und Unsicheren. Darius Kopp ist ein zeitgenössischer Wiedergänger von Robert Musils Figur Ulrich in dessen Roman "Der Mann ohne Eigenschaften" aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts - auch er ein Ingenieur, durch den die Zeitstimmungen hindurchgehen und der die Entwicklungstendenzen um sich herum ratlos zu fassen versucht. Die unverwechselbar ironisch-schnippische, einzelne Details scharf heraushebende Erzählhaltung Moras hat auch etwas mit solchen literarischen Spiegelmotiven zu tun. Das Absurde sammelt sich in unwesentlichen, leicht zu übersehenden Einzelheiten und wird wie durch eine Lupe vergrößert.

Eine höhere Ironie scheint sich auch in der Form dieses dritten Teils der Trilogie zu zeigen. Während Terézia Mora in den ersten beiden Büchern durchaus mehrspurig vorging, mit abrupten Wechseln der Perspektiven und in "Das Ungeheuer" sogar mit grafischen Experimenten, ist "Auf dem Seil" nun linear und realistisch durcherzählt, ganz nah an den Figuren und der Handlung. Darius Kopp selbst allerdings hat etwas Irritierendes, Vielschichtiges. Der Leser wird hineingezogen in Vorgänge, die aus einer Innenwelt kommen, die sich zu entziehen scheint.

Travel Destination: The Simmering Volcano Of Mount Etna

In Sizilien, am Fuße des Ätna gestrandet, sucht Darius Kopp, der Protagonist der Romantrilogie, nach einem Neustart seines Lebens.

(Foto: Getty Images)

Der Held wird meist mit Vor- und Nachname benannt, wie eine Spielfigur. Das markiert Distanz, er ist Teil einer Versuchsanordnung, die erst nach und nach kenntlich wird. Auf dem tiefsten Punkt, nach dem Verlust seiner Frau, dem Kappen sämtlicher Bezüge, ohne Geld als Outlaw in Catania gestrandet und nach drei Jahren orientierungsloser Irrfahrten sagt Darius Kopp zu Beginn des Buches: "Ich kann nicht anders, als glücklich zu sein."

Das Leben als IT-Ingenieur hat er weit hinter sich gelassen. Und nachdem er die Begräbnisstätte für seine Frau gefunden hat, steht er an einem Nullpunkt, der vielleicht auch einen Neuanfang markiert. Langsam nimmt er seine Umwelt stärker wahr, freut sich auf den Sonnenaufgang und die Abende auf der Terrasse mit dem Geruch des Meeres, und das Pizzabacken tagsüber erledigt er gewissenhaft und sogar mit einem immer größer werdenden Interesse für Geschmäcker und Nuancen.

Der Netzwerker sieht plötzlich die Welt aus der Perspektive von ganz unten

Es kommt jedoch etwas dazwischen, ein Einbruch aus der Vergangenheit. Zufällig, als Kopp noch als Fahrer bei geführten Ätnatouren arbeitet, stößt er in einer Touristengruppe auf seine Schwester Marlene. Obwohl er jeglichen Kontakt mit seiner Familie abgebrochen hat und auch nicht näher auf Marlene eingeht, setzt das etwas in Gang: Einige Monate später stöbert ihn deren Tochter auf, die anspielungsreich "Lorelei" heißt, von zu Hause ausgerissen ist und von keinem der längst getrennten Elternteile mehr unterstützt wird. Sie sucht bei Kopp für eine unbestimmte Zeit Zuflucht und ist, wie sich dann herausstellt, 17 Jahre alt und schwanger.

Durch die Familie, die er hinter sich gelassen und die seine Frau Flora einmal als "Terrorgemeinschaft" bezeichnet hat, gerät er in neue Verwicklungen. Lore muss sich ständig erbrechen, doch die Bewegung, die durch sie in Kopps Leben kommt, führt zu einem unerwarteten Effekt: Kopp fühlt sich plötzlich wieder für jemanden verantwortlich, spürt so etwas wie Bindung, und darin besteht die ungewöhnliche Entwicklungsgeschichte dieses Romans. Abseits des gesellschaftlichen Normalzustands stößt Kopp auf Wärmequellen, die er zuerst kaum wahrnimmt.

Der verschrobene alte Deutsche gehört dazu, der sich an einem verkommenen Strand eine improvisierte Hütte baut, der unkomplizierte, aus Afrika stammende Kollege in der Pizzeria, den er dann auch bei sich übernachten lässt - und dass in seiner Nichte Lore etwas verborgen liegt, wonach er sich sehnt, ist angesichts ihres haltlosen Zustands auch für ihn selbst kaum zu ahnen. Terézia Mora gelingen präzise, dichte Schilderungen von sozialen Milieus, die ansonsten in der deutschen Gegenwartsliteratur selten vorkommen. Und als Darius Kopp nach langer Zeit mit Lore wieder nach Berlin kommt, um ihr für eine Übergangszeit zu helfen, geraten Szenerien ins Visier, welche die aktuelle gesellschaftliche Situation unaufdringlich, aber markant, schräg und gewitzt beleuchten.

Georg-Büchner-Preis für Terezia Mora

Terézia Mora, im vergangenen Jahr mit dem Georg-Büchner-Preis ausgezeichnet.

(Foto: dpa)

Der Netzwerkexperte und Digitalmanager, wie er die Welt aus der Perspektive von ganz unten sieht, am finanziellen Abgrund: diese Konstellation führt zu einer illusions- und schonungslosen Schilderung der Überlebensstrategien im postbürgerlichen Kapitalismus, mit makabren und überraschenden Pointen.

Terézia Mora hat ein Talent dafür, unverwechselbare Figuren zu entwerfen, und sie ist eine Expertin für Zwischenzonen, für Identitäten jenseits aller Zuweisungen, für die Funken, die man aus dem Zusammenprall unterschiedlichster Gegenstände und Materialien schlagen kann. "Ich könnte auf einem Seil schlafen, wenn es sein müsste", sagt Darius Kopp einmal - und gegen Ende dieses unberechenbaren Romans weiß man, dass in dieser schwindelerregenden Botschaft auch eine Hoffnung liegen kann.

Terézia Mora: Auf dem Seil. Roman. Luchterhand Literaturverlag, München 2019, 368 Seiten, 24 Euro.

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