Europa:Vor dem Endspiel

Die neue Kommission erbt eine EU in der Zerreißprobe. Doch es gibt Wege, diese zu bestehen - und Ursula von der Leyen hat ein gutes Team zusammengestellt.

Von Stefan Ulrich

Es fällt schwer, den künftigen Kommissarinnen und Kommissaren der Europäischen Union zu gratulieren. Denn ihre Mission, die EU in den kommenden fünf Jahren zu verwalten, zu erhalten und voranzubringen, könnte zum Himmelfahrtskommando ausarten.

Übertreibung? Alarmismus? Nun, es müssen auf die neue Kommission nur einige der folgenden Ereignisse zukommen, die alle nicht unwahrscheinlich sind: Großbritannien vollzieht einen harten Brexit. Donald Trump wird als US-Präsident wiedergewählt und entfesselt einen massiven Handelskrieg gegen Europa. Zugleich schwächt er das Nato-Engagement der USA ab, was den russischen Präsidenten Wladimir Putin zu neuen Provokationen in der Ukraine, aber auch gegen die baltischen Staaten ermuntert. Kriege und Elend treiben, wie 2015, Hunderttausende aus Afrika und Nahost gen Europa.

Zugleich verwandeln sich Ungarn und Polen endgültig in autoritäre, illiberale, nationalistische Systeme. Weitere EU-Staaten eifern ihnen nach. In Italien scheitert die neue Regierung an ihren inneren Widersprüchen, der Rechtsradikale Matteo Salvini wird Premier und regiert das Euro-Land in den Bankrott. Die künftige Weltmacht China mit ihrem Parteidiktaturkapitalismus spaltet die EU, indem sie Staaten wie Griechenland bestechende Angebote macht. Und dann wären da noch die Umweltzerstörung und Erderhitzung.

Bei solchen Aussichten dürfte jeder, dem das Wohl der europäischen Nationen und ihrer Bürger am Herzen liegt, akzeptieren: Die Herausforderungen lassen sich, wenn überhaupt, nur gemeinsam bestehen. Doch ausgerechnet jetzt erodiert der Gemeinschaftsgeist der Europäer. Viele pochen darauf, dass die Interessen ihrer Nation Vorrang bekommen. Etliche, nicht nur in Großbritannien, wollen aus Euro und EU aussteigen. Demonstranten fordern nicht mehr, Grenzen einzureißen, sondern neu hochzuziehen. Und Brüssel gilt zahlreichen Bürgern als Schimpfwort.

Ist die neue Kommission also tatsächlich ein Himmelfahrtskommando? Immerhin haben die EU-Staaten und die Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, von wenigen Fällen abgesehen, ein gutes Team zusammengestellt - mit herausragenden Persönlichkeiten wie der Dänin Margrethe Vestager, der Französin Sylvie Goulard oder dem Niederländer Frans Timmermans. Die Mischung aus Frauen und Männern, Jüngeren und Erfahreneren, Nord-, Ost- und Südeuropäern stimmt. Von dieser Kommission könnte ein neuer Gemeinschaftsgeist ausgehen, der, im Idealfall, auch die Mitgliedstaaten und die Bürger inspiriert.

Der enorme Problem- und Zeitdruck - längst vorbei sind die Jahrzehnte, in denen Europa unter dem Schutz der USA gemächlich gedeihen konnte - müssen dabei kein Nachteil sein. Die zerstörerische Politik Boris Johnsons oder Trumps, das Auftrumpfen Chinas, die Dreistigkeit der Regierungen in Warschau und Budapest und das Heraufdämmern neuer Konjunktur- und Schuldenkrisen offenbaren, wie dringend die Menschen in Europa auf die EU angewiesen sind. Jedenfalls dann, wenn sie weiter in einem freien, sozialen, demokratischen, rechtsstaatlichen und unabhängigen Europa leben möchten.

Die neue Kommission kann diese Bewusstwerdung fördern, indem sie Projekte anpackt, die Europa offensichtlich stärken und vielen Menschen eingängig sind. Hierzu gehört eine wirklich gemeinsame Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik, die nationale Alleingänge, etwa gegenüber China, ausschließt. Hierzu gehört - und da kann Brüssel von Peking lernen - ein europäischer Kraftakt für eine ausgezeichnete Infrastruktur, eine noch bessere Forschung und eine beherzte Industriepolitik, die, nach dem Vorbild Airbus, global konkurrenzfähige Konzerne ermöglicht, etwa auf dem Feld der künstlichen Intelligenz. Und hierzu gehört es vor allem, die wohl schwierigste Aufgabe anzugehen: Finnen und Portugiesen, Deutsche und Franzosen, Griechen und Polen darauf hinzuführen, dass sie sich auch als Europäer fühlen, denen das europäische Allgemeinwohl genauso am Herzen liegt wie das nationale.

Dies aber kann nur gelingen, wenn Solidarität und Souveränität in der Europäischen Union neu definiert werden. Wohlhabende Länder wie Deutschland werden dann mehr für Europa abgeben, um schlechter gestellte Länder zu unterstützen. Denn ein europäisches Wir-Gefühl wird nur wachsen, wenn die Lebensverhältnisse nicht zu unterschiedlich sind. Im Gegenzug würden die begünstigten Länder mehr Kontrolle durch die EU akzeptieren. Denn wer gibt, darf erwarten, dass sein Geld nicht verschwendet wird. Doch wenn ein Land, ein Volk zu diesem Mehr an Wir nicht bereit ist? Dann ist es besser, sich zu trennen, als die ganze Gemeinschaft aufzuhalten.

Ja, das ist eine äußerst ambitionierte Agenda für eine Kommission und für fünf Jahre. Doch sie ist notwendig, damit die EU nicht unter innerer Spannung und äußerem Druck zerspringt.

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