Generaldebatte im Bundestag:Merkel, erstaunlich vorwärtsgewandt

Wenn die Kanzlerin über die Aufgaben ihrer Koalition spricht, redet sie damit auch über ihre Versäumnisse der vergangenen 14 Jahre. Sie hat nun nicht mehr viel Zeit, Lösungen zu finden.

Kommentar von Nico Fried, Berlin

Schau her, die Kanzlerin! Haut da einen raus, mal eben im Nebensatz: "Stichwort: Hyperscaler", hat Angela Merkel im Bundestag irgendwo in ihre langen Ausführungen zur Digitalisierung eingestreut, natürlich blitzsauber in englischer Betonung. Es kann gut sein, dass man das Wort bald häufiger aus ihrem Munde hört. Denn anders als zu Koalitionspartnern entwickelt die Kanzlerin durchaus enge Bindungen zu Begriffen, mit denen sie sich auf der Höhe der Zeit zu präsentieren vermag, oder sogar vorneweg. Disruption war das bislang letzte Wort, mit dem Merkel für einige Zeit eine feste Beziehung eingegangen ist. Solcherart Zuneigung folgt einer Mischung aus echter Faszination der Wissenschaftlerin und kalkulierter Angeberei der Politikerin.

Ein Hyperscaler ist übrigens eine Struktur aus dem Cloud-Computing, die durch die Vernetzung unzähliger Server flexibel und schnell Rechenkapazität bereitstellen kann. (Diesen Satz präsentierten Ihnen die Digitalexperten der SZ.) Im normalen Leben kann demnach jede Familie gewissermaßen als Hyperscaler wirken, zumindest wenn sie bei der Verrichtung alltäglicher Aufgaben Hand in Hand arbeitet, die Kinder ihre freien Kapazitäten auch mal zur Erledigung des Abwaschs nützen und man mit den Nachbarn eine Fahrgemeinschaft bildet. Politisch wiederum, das hat die Generaldebatte gezeigt, ist ein Hyperscaler genau das, was die große Koalition braucht: Er hilft, wenn die Aufgaben immer größer werden.

Eine Auflistung der Aufgaben ist auch eine Auflistung der Versäumnisse

Es spricht für Angela Merkel, dass sie in ihrer Rede wenig Zeit auf die Aufzählung der finanziellen und anderer Wohltaten ihrer Regierung in den vergangenen zwei Jahren verwendet hat. Stattdessen konzentrierte sie sich auf die Probleme, die noch zu bewältigen sind und immer dringlicher werden, vorneweg Digitalisierung und Klimaschutz. Anders gesagt: Es war für eine Kanzlerin, der politisch nicht mehr viel Zeit bleibt - und der je nach Verlauf der SPD-internen Debatte über die große Koalition womöglich sogar noch weniger Zeit bleibt als nicht mehr viel - eine erstaunlich nach vorne gewandte Rede.

Es spricht allerdings nach 14 Jahren auch gegen Merkel, dass ihre Auflistung der Aufgaben im Umkehrschluss an vielen Stellen zugleich eine Auflistung der Versäumnisse darstellte. Das reicht von der Straffung der Planungsprozesse bei Investitionen über den lahmenden Bau von Stromtrassen für die Energiewende bis hin zum Breitbandausbau. Unzählige Male hat Merkel in ihrer Rede gesagt: "Wir müssen." Aber allzu oft heißt das nur: "Wir haben noch nicht" - und nicht selten auch: "Wir haben immer noch nicht."

Auch die SPD wählt staatsmännische Töne

Das Wissen um die Notwendigkeiten der Zukunft entlässt Merkel nicht aus der Verantwortung für die Defizite, die sich angesammelt haben. Die Kanzlerin einer der führenden Wirtschaftsnationen darf im Anspruch natürlich nicht nachlassen, auch wenn es in der Realität hakt. Aber so sehr ein Hyperscaler ganz gewiss ein irgendwie erstrebenswertes Ding ist, beschreibt Merkel damit auch selbst die große Diskrepanz zum richtigen Leben in einem Land, in dem man sich noch immer durch ganze Regionen ohne ausreichenden Mobilfunk-Empfang bewegt.

Es spricht für die große Koalition, dass sich ihre Hauptredner in dieser Haushaltsdebatte erstaunlicherweise als zum Weiterregieren entschlossen präsentierten - gerade so, als stünde das gar nicht infrage. Da wurden keine Ultimaten gestellt und keine roten Linien gezogen. Ähnlich wie Merkel erging sich auch der interimistische, aber bald fest installierte SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich in Beschreibungen des Großen und Ganzen. Ganz anders als noch nach der Vereidigung der neuen Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer vor wenigen Wochen wählte Mützenich diesmal keinen angriffslustigen, sondern einen staatsmännisch, fast pastoral getragenen Ton.

In der Klimapolitik ist die Koalition stark gefordert

Mützenich kann, was seit Gerhard Schröder nur wenige in der SPD vermochten: Aus der Beschwörung sozialdemokratischer Tradition die Verpflichtung zum Handeln im Jetzt ableiten. Was er nicht so kann wie Schröder, ist die Übersetzung seiner Gedanken in eine mitreißende Rede. Trotzdem war es gut, dass Mützenich klar den Anspruch seiner Partei auf Macht und Machen erhoben hat, gerade den eigenen Leuten zugewandt: Die SPD muss sich vor allem um gutes Regieren für die Menschen bemühen, die es sich nicht leisten können, schlecht regiert zu werden.

In der Klimapolitik ist die Koalition nun noch einmal stark gefordert. Die Vorschläge, die sie am 20. September präsentiert, werden nicht das Ende der Debatte bedeuten, sondern erst deren wirklichen Anfang. Die Kanzlerin, das hat die Generaldebatte einmal mehr gezeigt, ist die unangefochtene Meisterin in der Beschreibung von Aufgaben, im Herausarbeiten von Interessengegensätzen, in der Definition von Lösungskorridoren. Aber ein brauchbares Ergebnis wird es nur geben, wenn Merkel, die rhetorisch so gerne in der Zukunft steht, sich diesmal mit konkreter Politik gewissermaßen selbst einholt.

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