Wahlverhalten:Gefährliches Desinteresse

PK ´Herausforderungen am Arbeitsmarkt" in MV

Jobcenter als Sackgasse: Viele Langzeitarbeitslose haben das Gefühl, dass sich Politik und Gesellschaft kaum für ihr Schicksal interessieren.

(Foto: Daniel Bockwoldt/dpa)

Forscher haben Langzeitarbeitslose zu ihrem Selbstbild befragt und warum so viele von ihnen AfD wählen: in Sachsen 41 Prozent, in Brandenburg 43 Prozent.

Von Edeltraud Rattenhuber

41 beziehungsweise 43 Prozent der Arbeitslosen, die Anfang September bei den Landtagswahlen in Sachsen und Brandenburg zur Wahlurne gingen, haben sich für die AfD entschieden. Dass die Rechtspopulisten in beiden Bundesländern zur zweitstärksten Kraft wurden, haben diese also auch ihnen zu verdanken. Doch was treibt viele Arbeitslose, darunter vor allem Langzeitarbeitslose, dazu, die AfD zu "ihrer" Partei zu machen?

Der Evangelische Fachverband für Arbeit und soziale Integration und die Diakonie in Bayern sind in einer umfangreichen Studie den Ursachen dieser Haltung auf den Grund gegangen. Ihr Ergebnis: Das Desinteresse von Politik und Gesellschaft an ihrem Schicksal führt bei den Menschen zu einem tief empfundenen Gefühl, ausgegrenzt zu sein, und lässt sie anfällig werden für politisch extreme Positionen - wenn sie überhaupt wählen gehen. Dabei sind sie populistischen oder extremen Positionen nicht per se zugeneigt. Die AfD wird fast ausschließlich als Protestpartei gesehen und vielfach auch als solche benutzt.

Befragt wurden 70 Langzeitarbeitslose. Diese zeichnen demnach fast durchweg ein pessimistisches Bild von der sozialen und gesellschaftlichen Situation in Deutschland. Besonders sensibel reagieren sie auf die vorhandenen Desintegrationsprozesse und Verteilungskämpfe, denn diese treffen sie härter als andere. Als Gegenbild dient die stabile und "sozial gerechte" alte Bundesrepublik, für die die Kanzler Willy Brandt, Helmut Schmidt und Helmut Kohl standen.

Zwar ist die Studie, die an diesem Mittwoch in Nürnberg vorgestellt wurde, nicht repräsentativ für das Wahlverhalten der derzeit rund 740 000 Langzeitarbeitslosen in Deutschland. Doch sie ist laut Studienleiter Franz Schultheis "eine ganz besondere". Die ihr zugrunde liegenden Interviews wurden dank einer besonderen Fragekonstellation "auf Augenhöhe" geführt. Langzeitarbeitslose wurden selbst zu Forschern und befragten andere Langzeitarbeitslose nach ihren Lebensumständen. So entstanden laut Schultheis, der Soziologie-Professor an der Universität St. Gallen ist, echte Dialoge, deren Auswertung zeige, "dass das, was man das Existenzminimum nennt, in Wirklichkeit keine menschenwürdige Existenz erlaubt, Menschen nicht integriert, sondern sozial verwaltet und ausgrenzt". So hält sich eine Frau, die für die Studie interviewt wurde, für "nicht mehr so viel wert in der Gesellschaft", da sie keine Arbeitsstelle hat.

Nach Schultheis' Ansicht kann die wichtigste Folgerung aus den Interviews daher auch nur sein, das System Hartz IV wieder rückgängig zu machen. Auch müsse die Politik größere Anstrengungen unternehmen, um die Menschen wieder in die Gesellschaft zu integrieren. Stichwort Jobcenter: "Immer wieder ergebnislos nur irgendwelche Trainings absolvieren zu müssen, die einem die eigene Hilflosigkeit vor Augen führen", verstärke in den Menschen die Resignation und die Wut, sagte Schultheis der Süddeutschen Zeitung.

Die Befragung für die Studie mit dem Titel "Unerhört! Langzeitarbeitslose Nichtwähler melden sich zu Wort" fand 2016 statt, also kurz nachdem Zehntausende Flüchtlinge nach Deutschland kamen, was das Erstarken der AfD erst möglich machte. Bereits 2017 wurde daraus eine erste Studie namens "Gib mir was, was ich wählen kann", in der in erster Linie die Motive der prekären Nichtwähler erforscht wurden. Dabei habe man aber nur etwa zehn Prozent des Materials wirklich sinnvoll verarbeitet, meint Schultheis. Seitdem wurden die Interviews weiter untersucht und in einer sogenannten transversalen Analyse nach Themen geordnet ausgewertet.

Das Verhältnis der Betroffenen zu den bestehenden Parteien ist offenbar so zerrüttet, dass viele angeben, keine Partei zu haben, "der sie Vertrauen schenken wollen", betont Studienleiter Schultheis. Gesucht wird nach einer Alternative. Einer der Befragten forderte, es müsse eine Partei entstehen, welche die Interessen aller Arbeitslosen vertritt - und koalitionsfähig ist.

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