Erinnerungskultur:Spuren eines Vernichtungsfeldzugs

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Gedenken an den Beginn des Zweiten Weltkriegs vor 80 Jahren: Denkmal des polnischen Soldaten im Bezirk Friedrichshain. (Foto: dpa)

In Berlin soll künftig ein Denkmal an die mörderische deutsche Besatzungspolitik in Polen erinnern. Doch das genügt noch längst nicht.

Kolumne von Norbert Frei

Ein "Programm völkischer Destruktion" sei es gewesen, was dem deutschen Überfall auf Polen seit Herbst 1939 folgte, schrieb Martin Broszat 1961. Das Buch des jungen Historikers fand in Fachkreisen viel Beachtung - übrigens auch im damaligen "Volkspolen" -, aber dass die westdeutsche Öffentlichkeit das Ungeheuerliche seiner Ausführungen wirklich aufgenommen hätte, kann man nicht sagen.

Wenn seinerzeit die Rede auf Leid und Verbrechen "im Osten" kam, dann war meist gemeint, was Deutschen im Zuge von Flucht und Vertreibung angetan worden war - kaum dagegen, was Deutsche zuvor an Verbrechen begangen hatten. Zwar brachte der Frankfurter Auschwitz-Prozess den Mord an den europäischen Juden, darunter mehr als drei Millionen polnische Staatsbürger, seit 1963 stärker ins gesellschaftliche Bewusstsein. Aber die präzedenzlose Brutalität nationalsozialistischer Besatzungspolitik, gerade gegenüber Polen, sollte noch auf Jahrzehnte hinaus hinter einem Schleier gewollter Ignoranz verbleiben. Willy Brandts Kniefall im Warschauer Ghetto im Dezember 1970 vermochte das nicht zu ändern. Nun jedoch ist dieses lange verdrängte Wissen im Begriff, politisch virulent zu werden.

Zum 80. Jahrestag des Kriegsbeginns hat eine vor zwei Jahren gestartete überparteiliche Initiative Fahrt aufgenommen: Mehr als 200 Abgeordnete des Deutschen Bundestags - unter ihnen jetzt auch dessen Präsident Wolfgang Schäuble - setzen sich für ein Denkmal ein, das in Berlin an die insgesamt etwa sechs Millionen polnischen Opfer erinnern soll.

Als Ort des Gedenkens ist der Askanische Platz vorgesehen, direkt gegenüber dem "Deutschlandhaus", das irgendwann einmal das "Dokumentationszentrum Flucht und Vertreibung" beherbergen wird. Der Ort ist also nicht schlecht gewählt, aber es bleibt die Frage, ob ein Denkmal komplexes historisches Wissen in gesellschaftliches Bewusstsein verwandeln kann, und ob es in aktuellen Auseinandersetzungen hilft. Es bleibt die Frage, was eine knappe Inschrift zu leisten vermag, die, so lautet der Vorschlag, der "Opfer der deutschen Besatzung Polens 1939 - 1945" gedenkt und die "Heldinnen und Helden des polnischen Widerstands" ehrt - und die ansonsten auf die Zukunft setzt: "Für ein gemeinsames Europa."

Hinter dem Askanischen Platz liegt die Brache des Anhalter Bahnhofs, von dem nur noch die vordere Fassade steht. Raum für mehr als ein Denkmal wäre also vorhanden. Und Gründe für mehr gäbe es mehr als genug.

In Zentralpolen gerierten sich deutsche Verwaltungsbeamte als Herrenmenschen.

Hitlers Erlass "zur Festigung des deutschen Volkstums" vom 7. Oktober 1939 machte aus der nach Absprache mit Stalin eroberten Westhälfte Polens ein Exerzier- und Experimentierfeld nationalsozialistischer Rassen- und Bevölkerungspolitik. Auch wenn es dafür keiner besonderen Erklärung mehr bedurfte angesichts einer Kriegführung, für die der "Führer" von seinen Generälen "brutales Vorgehen, größte Härte" verlangt hatte: Den Anlass für äußerste Rücksichtslosigkeit auch nach dem "Blitzsieg" lieferte der Deutsch-Sowjetische Grenz- und Freundschaftsvertrag, der die Möglichkeit eröffnete, Volksdeutsche aus der Sowjetunion und dem Baltikum ins Reich zu holen, in die sogenannten eingegliederten Ostgebiete.

Im Vorfeld dieser Umsiedlungen erlebten vor allem die neugebildeten Reichsgaue Wartheland und Danzig-Westpreußen einen von Himmler ideologisch befeuerten "Volkstumskampf", der binnen weniger Wochen Zehntausende von Menschenleben kostete. Unterstützt von Einheiten des berüchtigten Volksdeutschen Selbstschutzes liquidierten die Einsatzgruppen der Sicherheitspolizei und des SD systematisch Juden und Angehörige der polnischen Intelligenz. Lehrer und Professoren, Ärzte und Geistliche wurden als potenzielle Organisatoren des Widerstands erschossen, polnische psychiatrische Anstalten zu Jahresanfang 1940 mit Maschinengewehren geräumt.

Während es im annektierten Westen Polens darum ging, die "Germanisierung" vormals multiethnischer Räume schnellstmöglich abzuschließen, entstand in Zentralpolen unter Hans Frank, Hitlers einstigem Münchner Anwalt, ein neues deutsches Kolonialreich: das sogenannte Generalgouvernement. Franks "Diensttagebuch" ist ein monströses Dokument dieser Terrorherrschaft, an der auch vormals eher brave deutsche Verwaltungsbeamte partizipierten. Angesichts schier unbegrenzter Möglichkeiten der Korruption wuchsen nicht wenige von ihnen als sogenannte Kreis- oder Stadthauptleute zu despotischen Herrenmenschen heran.

Gedenken
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Von Nico Fried

Anders als lange beschwichtigend behauptet, begann der Vernichtungskrieg im Osten nicht erst 1941 mit dem Angriff auf die Sowjetunion, sondern 1939 in Polen. Die auf den Feldzug folgende Besatzungsherrschaft wurde nicht nur zur längsten des Zweiten Weltkriegs, sie war zugleich die insgesamt verbrecherischste: Der von der Landkarte getilgte polnische Staat wurde Tatort des Genozids an den europäischen Juden, seine Hauptstadt Warschau im Frühjahr 1943 zum Schauplatz einer barbarischen Niederschlagung des Aufstands im jüdischen Ghetto; im Herbst 1944, nach dem gescheiterten Aufstand der Heimatarmee, wurde die Stadt von Pioniereinheiten der Wehrmacht systematisch zerstört. Und dennoch umfasste die deutsche Okkupation in Polen nur einen Vorschein dessen, was nationalsozialistische Großraumplaner für später ins Auge gefasst hatten. Emblematisch für den perspektivischen Wahnsinn des deutschen Rassenimperialismus steht der noch immer wenig bekannte Generalplan Ost, ohne den auch die Besatzungspolitik in Polen nicht zu verstehen ist.

Es gibt in Deutschland - anders als in Polen - kein Museum des Zweiten Weltkriegs; es gibt keinen Ort, der umfassend über die deutsche Besatzungsherrschaft in Europa informiert. An der Ruine des Anhalter Bahnhofs wäre Platz dafür. Hier ließe sich, ohne den Tücken einer Nationalisierung des Erinnerns nachzugeben - warum kein Denkmal für die anderen? -, all das Leid und Unrecht dokumentieren, das mit dem Überfall auf unsere polnischen Nachbarn nur begann.

© SZ vom 13.09.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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