Biennale in Istanbul:Perlen im Plastikmüll

Die Istanbul-Biennale erschließt einen "siebten Kontinent" - voller Schamanen und Zivilisationsscham.

Von Till Briegleb

Es war eine Situation am Rande der Komik, mit der die 16. Istanbul-Biennale am Dienstag für das Fachpublikum eröffnet wurde. Während der Kurator Nicolas Bourriaud im Foyer der Kunstuniversität sein Thema "Der Siebte Kontinent" erläuterte, verteilte der Gastronom auf der Terrasse am Bosporus Kaffee in Bechern mit Plastikdeckel an die aus aller Welt eingeflogenen Journalistinnen, Journalisten, Kunstakteurinnen und Kunstakteure. Das wäre bei keiner anderen Großveranstaltung aufgefallen, aber diese Biennale widmet sich explizit dem Kunststoff als Sinnbild falscher Lebensweise.

"The Seventh Continent" ist die Metapher für den gigantischen Strudel aus Plastikabfall im Pazifik, fünfmal so groß wie die Türkei, den Bourriaud mit seinen Künstlerinnen und Künstlern gedanklich bereisen möchte, um über das problematische Verhältnis des Menschen zur Welt zu sprechen. Der französische Kurator sieht in der instabilen Landmasse eine Formation des menschlichen Unterbewussten, ein Menetekel des modernen, bipolaren Denkens, das trennt zwischen Mensch und Ding, Kultur und Natur, Ich und Anderen.

Nicolaus Bourriaud wünscht, mit dieser Plastikmetapher andere Relationen sichtbar zu machen in einer Welt, in der alles mit allem verbunden ist. Wo großes Wachstum nur entsteht aus dramatischen Verlusten, Wohlstand immer im Zusammenhang steht mit Verarmung, jede Konstruktion zuerst Destruktion ist. Es geht um das Anthropozän, das gegenwärtige Zeitalter, in dem der Mensch den Planeten verändert, indem er ihn verbraucht. Diesen schleichenden Suizid der Menschheit will Bourriaud von seinen Künstlern kommentiert wissen, und ein bisschen auch korrigiert. Denn er hat ein geradezu enthusiastisches Vertrauen in die visionären und sensiblen Kräfte der Kunst, Alternativen aufscheinen zu lassen.

Dass endloses Wachstum die Krise erzeugt, dazu nehmen die Arbeiten sehr dezidiert Stellung

Doch zunächst muss in der großen Ausstellung, verteilt auf drei Orte, das Terrain geklärt werden. Und dafür braucht es die "Kunst der schrecklichen Geschichten". So bezeichnet das Feral Atlas Collective, ein interdisziplinäres und internationales Netzwerk aus Wissenschaftlern und Künstlern, ihre Sichtbarmachung des Anthropozäns am Hauptort der Biennale, dem neuen Museum für Malerei und Skulptur in Beyoğlu. In vier Sälen liefern die Forscher in einem deprimierenden Kompaktkurs hässliche Ehrlichkeit über kochende Schlammvulkane als Folge von Ölbohrungen, exzessive Quallenvermehrung durch Düngung der Meere, verendete Albatrosse mit Konsummüll im Magen. Industrielle Lebensmittelproduktion, Abfallwirtschaft und Straßenbau gelten als Ursachen der umkippenden Ökosysteme.

Dieses Projekt ist spürbar getrieben vom Zorn über die notorische Verdrängung von kritischen Informationen, die wir Konsumenten betreiben, um unsere verbrauchende Lebensweise aufrechterhalten zu können. Und es ist die radikale Kritik an einem Grundpfeiler der kapitalistischen Selbstbehauptung, ohne Wachstum drohe Krise. Dass endloses Wachstum erst Krise erzeugt, und zwar lebensbedrohliche Krise, dazu nehmen auch andere Arbeiten sehr dezidiert Stellung. Armin Linke etwa zeigt in einer tief recherchierten Videoarbeit, die er in einem Luxusresort auf der Prinzessinneninsel Büyükada zeigt, wie die sich gerade entwickelnde Ausbeutung von Tiefseebodenschätzen im Pazifik die Rücksichtslosigkeit der Wachstumspolitik fortsetzt - direkt unter dem "Siebten Kontinent" aus Plastikmüll.

Istanbul-Biennale

Der "Mini" findet sich im Hauptgebäude. Er stammt von dem amerikanischen Künstler Jared Madere.

(Foto: Till Briegleb)

Oder der türkische Künstler Ozan Atalan beschreibt in einem tieftraurigen Video-Diptychon, wie für den Bau des neuen Riesenflughafens von Istanbul, über den auch die Künstler wie die ausländischen Gäste dieser Biennale klimagiftig einfliegen (auch der Autor dieses Artikels), ein Habitat der türkischen Wasserbüffel vernichtet wurde. Auch gegenüber der eigenen Spezies verhält sich der menschliche Profitgedanke gnadenlos. Die taiwanesische Künstlerin En Man Chang begleitet in einer dokumentarischen Videoarbeit die Vertreibung und Entrechtung indigener Bauarbeiter in Taipeh, deren kunstvoll selbstgebaute Straßenrandsiedlung abgerissen wird - für neue, spektakuläre Immobilienprojekte, die wiederum von rechtlosen Menschen aus einer anderen Barackenheimat gebaut werden müssen.

Als Gegenpol zu solchen Arbeiten voll argumentativer Kritik finden sich spirituelle, schamanistische und esoterische Projekte. Sie interpretieren Bourriauds Libretto der globalen Zusammenhänge transzendental. Die amerikanische Künstlerin Suzanne Husky zeigt die amerikanische Öko-Feministin Starhawk, die mit einer kleinen Trommel eine "Earth Cycle Trance" über die Heiligkeit der Erde singt. Es gibt Kommunikation mit dem Totenreich (Claudia Martinez Garay), mit Fischen (Jonathas de Andrade) und eine Sensibilisierung für das Paranormale durch das schwedische Malmedium Ylva Snöfrid. Korakrit Arunanondchai setzt die bereits bei der Venedig-Biennale gezeigte Verquickung realer Ereignisse (Aufstieg Trumps, Demenz der Mutter) mit tanzenden Geistern fort.

Der Glaube, dass Technik alles in den Griff bekommt, ist vielleicht unlogisch und gehaltlos

Manches davon hätte man noch vor nicht allzu langer Zeit vermutlich als Eso-Kitsch abqualifiziert. Doch vor dem Hintergrund einer Entwicklung, bei der das angeblich Vernünftige zum offensichtlich Katastrophischen führt, erscheint diese Suche nach Einklang mit der Natur fast als konstruktives Angebot für ein anderes Denken, dem man sich vielleicht stellen könnte. Denn der Glaube, dass der Verstand mit Hilfe der Technik alles in den Griff bekommt, ist vor dem Ausmaß der Zerstörung, die dabei verursacht wird, vielleicht viel unlogischer und gehaltloser als alle Beschäftigung mit dem Spirituellen.

Andere Arbeiten dieser großen Kunstschau zur Psychologie der Umweltzerstörung beschäftigen sich mit Themen, die von den Wachstumsvertretern rund um den Globus mindestens so abschätzig behandelt werden wie der Glaube an ein ganzheitliches Weltbild. Empathie zum Beispiel. Die tschechische Künstlerin Eva Koťátková hat mir ihrer großen, aber feinteiligen Installation "Machine for Restoring Empathy" die vielleicht komplexeste und zugleich sinnlichste Arbeit dieser Biennale zu der Frage geschaffen, wie man ein neues Verständnis der Welt erreichen könnte, das weniger destruktiv ist als das kapitalistische.

Ihren Nähworkshop, den sie ausdrücklich als Protest gegen alles Ausgrenzende deklariert, hat Koťátková aus scheinbar absurden Fragen entwickelt. Was wäre, wenn eine Matratze kein untergeordnetes Objekt mehr sein wolle, ein Gartenschlauch zur Schlange und ein Seestern zum Wal werden will, ein Tisch Kinder vor Strafe schützen möchte? Aus diesem Modell poetischer Fragen mit Hintersinn entwickelte sie eine riesige höhlenartige Struktur aus Stoff und Draht sowie eine Wunderkammer der Dinge in ungewöhnlichen Bezügen, die Mitgefühl als universellen Verständigungsmodus erproben wollen.

Istanbul-Biennale

Die Figur aus den "Hybrid Creatures" der britischen Künstlerin Monster Chetwynd wird auf der Prinzessinneninsel "Büyükada" gezeigt

(Foto: Till Briegleb)

Derartigen Weltentwürfen ist der dritte Teil der Ausstellung im kulturhistorischen Peri-Museum ausschließlich gewidmet. Bourriaud versammelt hier Lebenswerke, die eine zusammenhängende Welt nach eigenen Sinnkriterien erfanden. So hat der US-Amerikaner Norman Daly aus dem Zivilisationsabfall der Sechziger- und Siebzigerjahre ein eigenes archäologisches Museum zum fiktiven Volk der Llhuros inklusive Sprache, Musik und Kunst geschaffen, das deren Geschichte durch verschiedene Jahrhunderte grandios fake-authentisch beschreibt.

Und der schottische Künstler Charles Avery erfindet mit gläsernen Aalen und Quallen, großformatigen Zeichnungen und Fundobjekten ein Inselvolk dürrer Menschen, das wie der schräge Traum einer autarken Welt im Ozean erscheint. Dies sind Beispiele für die Alternativen, die Nicolas Bourriaud sich von seinen Künstlern erhofft: Vorstellungswelten nach neuen Denkmustern und mit frei fließender Fantasie, die dem stupiden Glauben, das alles eine Ware sein müsse, um Wert zu haben, andere Möglichkeiten der gemeinsamen Existenz von Mensch, Tier und Ding entgegenstellen.

Bourriauds Unvoreingenommenheit gegenüber neuen Orientierungen hat aber auch abseits von Ökologie und Philosophie erstaunliche Nebeneffekte. So ist die Kunst dieser Biennale paritätisch erzeugt von Frauen und Männern. Das ist keine Selbstverständlichkeit, auch wenn es so sein sollte. Und wirklich große Kunstnamen fehlen völlig, denn leider beschäftigen sich viele der vom Kunstmarkt gezeugten Superstars weniger mit drängenden Themen als mit ihrem Marktwert.

Und trotzdem kann auch eine Biennale, die sich mit der Umkehr der kapitalistischen Dynamik zum Wohle (nicht nur) der Menschheit beschäftigt, von systemischen Widersprüchen nicht frei sein. Die Inflation der Bilder, die Bourriaud beklagt, setzt er mit einer Biennale unmittelbar fort. Das Format dieser internationalen Kulturevents hat das ausdrückliche Ziel, viele auswärtige Besucher zu generieren, was Tausende Tonnen Kohlendioxid in die Atmosphäre bläst. Das Verpflegungsangebot, auch der Istanbul-Biennale, ist primär fleischorientiert und plastikverpackt. Und der Hauptsponsor ist seit 2007 die Koç Foundation, die von einem Konzern getragen wird, der Millionen in der Rüstungsindustrie verdient.

Vielleicht müsste im Sinne von Nicolas Bourriauds Umdenkprozess also einmal grundsätzlich über den internationalen Kulturtourismus nachgedacht werden. In diesem Sinne kann man dann eigentlich nur empfehlen, zu dieser empfehlenswerten Biennale gar nicht erst hinzufliegen. Doch was sind die Alternativen?

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