Großbritannien:Liberaldemokraten versprechen Brexit-Absage

Jo Swinson, Libdems, Brexit

Sie wollen Europäer bleiben: Anhänger begrüßen Jo Swinson, Vorsitzende der Liberal Democrats, bei ihrer Ankunt zum Parteitag am Wochenende in Bournemouth.

(Foto: Jonathan Brady/dpa)
  • Sollten die Liberal Democrats die nächsten Wahlen gewinnen, wollen sie den Brexit umgehend absagen. Das haben sie auf ihrem Parteitag in Bournemouth beschlossen.
  • Manche Parteimitglieder finden den Beschluss im Hinblick auf das Brexit-Referendum von 2016 allerdings falsch.
  • Der Einfluss der Partei ist mit der EU-Austritts-Debatte deutlich gewachsen - auch, weil mehrere Abgeordnete anderer Parteien zuletzt übergelaufen waren.

Von Cathrin Kahlweit, Bournemouth

Hareen Potu hat gegen seine neue Chefin und ihre neuen Ideen gestimmt. Er findet den Plan, den Brexit umgehend und komplett abzusagen, falls seine Partei die nächsten Wahlen gewinnen sollte, gelinde gesagt: mutig. Und offen gesagt: falsch.

Jo Swinson, die energiegeladene Vorsitzende der britischen Liberaldemokraten, hatte das radikale Motto auf dem Parteitag in Bournemouth am Sonntag zur Abstimmung gestellt - und nach einer vehementen Debatte eine große Mehrheit dafür bekommen. Wann immer also demnächst Wahlen stattfinden im Vereinigten Königreich, werden die LibDems mit dem Slogan in den Kampf ziehen: Stop Brexit.

Das Mittel ihrer Wahl: Revoke, also zurückziehen - was bedeutet: Swinson würde, sollte sie Premierministerin werden, am ersten Tag nach ihrer Amtseinführung in Brüssel Bescheid sagen, dass London Artikel 50 nicht weiter verfolgen will. Artikel 50 - das ist jener Paragraf, mit dem Großbritannien den Brexit-Prozess im Frühjahr 2017 in Gang gesetzt hatte.

Nun muss man wissen, und das weiß auch der liberale Abgeordnete Hareen Potu, dass die Wahrscheinlichkeit äußerst gering ist, dass Swinson demnächst Brexit-Fan Boris Johnson ablösen könnte. Dagegen sprechen das britische Mehrheitswahlrecht und die Tatsache, dass die LibDems derzeit in den Umfragen bei 20 Prozent liegen.

Aber Potu hat grundsätzliche Zweifel: Was, fragt der 30-jährige, indischstämmige Delegierte im Gedränge vor einem Konferenzraum, wo Delegierte und Experten gerade die ewige Frage diskutiert hatten, wie es weitergeht mit dem Brexit, was ist dann mit dem Referendum von 2016? Damals stimmten 52 Prozent für den Austritt. Braucht man nicht ein zweites Referendum, um das erste zu entkräften? Würde das demokratische Mandat, das aus einem Wahlsieg erwächst, diese Volksabstimmung einfach ersetzen?

"Die Leute wollen, dass der Brexit weggeht. Wir versprechen ihnen, dass er weggeht"

Weil die Aufbruchstimmung in Bournemouth immens ist, weil die Sonne scheint, weil niemand die gute Laune, die guten Umfragedaten und den Neuanfang nach einer langen politischen Durststrecke stören will, beteuert Potu, dass er natürlich trotzdem für die LibDem-Lösung Wahlkampf machen wird. "Wir haben jetzt eine klare Botschaft. Klarer als die von Labour, die sich nicht entscheiden können. Die Leute wollen, dass der Brexit weggeht. Wir versprechen ihnen, dass er weggeht."

Aber nicht er allein hat Zweifel. Swinson muss sich während des Parteitags in dem südenglischen Küstenort immer wieder fragen lassen, ob der neue Kurs nicht undemokratisch sei. Sie zeigt sich unbeeindruckt und selbstbewusst: Ein Wahlsieg sei ein Wählerauftrag, und eine eindeutige Positionierung sei die Basis dafür. Aber natürlich, betont sie eilig, werde ihre Partei gemeinsam mit der restlichen Opposition weiter für ein zweites Referendum kämpfen, wenn die LibDems nicht stärkste Kraft würden.

Der Einfluss der Libdems ist mit dem Brexit gewachsen

Traditionell halten Parteichefs auf britischen Parteitagen ihre große Rede zum Schluss; und so legt Swinson, die schon die Revoke-Debatte vom Sonntag angeführt hatte, am Dienstag noch einmal nach: Brexit - das sei so, als setze man sein eigenes Haus in Brand. Premier Boris Johnson sei ein Nationalist und beschädige die Demokratie, Labour-Chef Jeremy Corbyn sei radikal und regierungsunfähig. Johnsons No-Deal-Kurs mache sie krank.

Die 39-Jährige ist eine gute Rednerin, sie hat Power und Charisma, und die Erleichterung nach dem Rücktritt ihres 71-jährigen Vorgängers Vince Cable ist in Bournemouth mit Händen zu greifen. Aber das eigentliche Aphrodisiakum der Partei, die noch vor wenigen Jahren bei unter zehn Prozent gedümpelt war, ist der Brexit. Die LibDems haben endlich ein herausragendes Thema, sie waren und sind Europäer. Und je länger sich die Krise im Königreich hinschleppt, umso größer wird ihre Anziehungskraft.

Sechs Abgeordnete von anderen Parteien waren zuletzt übergelaufen, das ist ein Drittel der derzeitigen liberalen Unterhaus-Abgeordneten. Philip Lee, für alle sichtbar, hatte das sogar während einer Parlamentsdebatte getan; der letzte Neuzugang war, kurz vor dem Parteitag, der Tory-Abgeordnete Sam Gyimah, gewesen, der den "Populismus" von Boris Johnson nicht mehr ertragen mochte.

Ebenso wie bei der "Stop-Brexit"-Entscheidung gibt es aber auch hier einiges Gegrummel im Hintergrund: Nicht alle LibDems, gesellschaftspolitisch traditionell linksliberal, finden es gut, dass sie nun Kollegen haben, die nicht auf einem liberalen Ticket ins Unterhaus gekommen sind und beispielsweise gegen die Homo-Ehe gestimmt haben.

Kritik an den zwei Männern ohne "moralischen Kompass"

Aber der Einfluss der Partei ist sichtlich gewachsen, und das finden dann wieder alle gut. Der prominente Überläufer Chuka Umunna, Ex-Labour, jetzt Schatten-Außenminister der LibDems, bedankt sich unter dem Jubel seiner neuen Parteifreunde für die warme Aufnahme, bevor er das Land vor Johnson und Corbyn warnt: Die pluralistischen Kräfte der liberalen Demokratie würden "weltweit bedroht von einem neuen Autoritarismus". Und im UK stünden zwei Männer an der Spitze von Regierung und Opposition, die "keinen moralischen Kompass" hätten.

Besonders erleichtert über das warme Klima drinnen im Konferenzzentrum und draußen im Spätsommer am Meer dürfte aber Luciana Berger gewesen sein. Die ehemalige Labour-Abgeordnete jüdischen Glaubens hatte ihre alte Partei wegen andauernder antisemitischer Übergriffe verlassen; sie hatte zuletzt Personenschutz gebraucht. In Bournemouth läuft sie mit ihrem Baby im Brustgurt herum; das Baby wird bewundert, und sie wird gefeiert.

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