New-York-Kolumne (XXXVI):"Sie müssen schweigen"

Unser Kolumnist in New York hat jahrelang meditiert, auf der Suche nach den Pfeilern des Glücks. Dann fand er diese drei: verwinkelter Supermarkt, zitternder Friseur, Geheimbar.

Von Christian Zaschke

Ich verlasse Hell's Kitchen nur ungern. Warum auch? Es gibt hier ja alles. Den Amish-Supermarkt zum Beispiel, der einem Kaninchenbau gleicht. Regelmäßig müssen dort Suchtrupps ausrücken, um Touristen aufzugreifen, die so tief ins Innerste des Marktes vorgedrungen sind, dass sie tagelang den Ausgang nicht finden. Meistens irren sie bei den Regalen mit den hartgekochten Eiern oder denen mit Knäckebrot herum. Neulich war das große Thema im Viertel, dass einige Touristen in den Bereich vorgestoßen seien, in dem die eingelegten Anchovis lagern. Selbst Stammkunden wagen sich dort nur unter Begleitung einer Führerin hin.

Außerdem gibt es in Hell's Kitchen einen Friseurladen namens "Rafik Barber Shop LLC", in dem Robert mir mit zitternden Händen Frisuren verpasst, ferner die exzellente Schrottbar Rudy's, von der aus verschiedenen Gründen nicht verraten werden kann, wo sie genau liegt.

Ich habe jahrelang meditiert, auf der Suche nach den Pfeilern des Glücks. Ich ging in meine Tiefen. Ich brütete Tag für Tag, und dann, und so stelle ich mir den Moment vor, in dem ein angehender Zen-Mönch sein erstes Koan löst - es handelt sich, sehr verknappt gesagt, bei einem Koan um eine Art Welträtsel -, fand ich diese drei Pfeiler: verwinkelter Supermarkt, zitternder Friseur, Geheimbar.

Alle naselang ruft diese Zeitung bei mir an und schickt mich durch Amerika

Wenn man in seinem Viertel diesen Dreiklang gefunden hat, will man nicht mehr weg. Außer mal für zwei, drei Stunden, um durch den Central Park zu spazieren. Nun trug es sich aber zu, dass ich einst, es mag der Leichtfertigkeit der Jugend geschuldet gewesen sein, mit einer gewissen Zeitung einen Pakt einging, der, ich paraphrasiere, besagte, dass ich allerlei Artikel schreibe und die Zeitung mir dafür Geld gibt. Im Prinzip ein tadelloses Arrangement, aber es führt dazu, dass die Zeitung alle naselang anruft und mich durch Amerika schickt. In dieser Woche: nach Washington, D. C.

Noch während der Hörer nach dem Gespräch wieder der Gabel zustrebte, raste ich zur Penn Station und bestieg den Zug nach D. C. In diesem fand ich den letzten freien Sitzplatz an einem Vierertisch und begann ein Gespräch mit meinen Nachbarn. Allerdings: Ich war in den Ruhewagen geraten. Es dauerte rund zwei Minuten, bis eine Frau an unseren Tisch kam. "Ich will hier nicht die Anwältin des Ruhewagens sein", sagte sie, obwohl sie exakt das sein wollte, "aber das ist der Ruhewagen, sie dürfen hier nicht sprechen." Ich lächelte höflich. "Sie übertreiben vielleicht", sagte ich, "wir reden ja nur leise." "Ich übertreibe NICHT", rief sie. Ich schaute sie an wie ein Zen-Mönch, der jüngst sein erstes Koan gelöst hat, und lächelte noch höflicher. "SIE MÜSSEN SCHWEIGEN", brüllte sie.

Ich hatte natürlich Reiseproviant dabei, Knäckebrot, hartgekochte Eier und eingelegte Anchovis. Wortlos bot ich ihr davon an.

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