Niederlande:Ein Verbrechen, das die Machtlosigkeit des Staates belegt

Der Tatort

Der Tatort in der Nähe von Amsterdam.

(Foto: AFP)

Der Mord an Derk Wiersum in Amsterdam dürfte auch politisch weitreichende Folgen haben: Der Anwalt hatte den Kronzeugen in einem Prozess gegen Bandenkriminelle verteidigt.

Von Thomas Kirchner

Die Niederlande sind am Mittwoch von einem Mord erschüttert worden, der auch politisch weitreichende Folgen haben dürfte. Derk Wiersum, Anwalt eines Kronzeugen im seit Jahren größten und wichtigsten Strafprozess gegen Bandenkriminelle, wurde am frühen Morgen vor seinem Haus im Süden von Amsterdam auf dem Weg zum Auto erschossen. Der Täter, laut Zeugen zwischen 16 und 20 Jahre alt, konnte nach Polizeiangaben zu Fuß flüchten. Wiersums Frau, die ihn begleitet hatte, blieb unverletzt.

Wiersum hatte Nabil B. verteidigt, der sich entschlossen hatte, in einem Mord-Prozess gegen eine Gruppe von Angeklagten um Ridouan T., den meistgesuchten Kriminellen des Landes, und dessen mutmaßliche rechte Hand Said R auszusagen. Im März 2018 war bereits der Bruder des Kronzeugen umgebracht worden, eine Woche, nachdem B. den Kronzeugendeal mit der Polizei geschlossen hatte.

Der Bruder hatte nichts mit dem Verfahren zu tun, die Tat war eine reine Drohung gegen B. Der Kronzeuge belastet die Bande um Ridouan T. mit insgesamt 13 Morden und Mordversuchen.

"Das ist ein unvorstellbarer Schock"

Der Mord an Wiersum rief großes Entsetzen hervor. "Das ist ein unvorstellbarer Schock", sagte die Amsterdamer Bürgermeisterin Femke Halsema. Man müsse den Anwaltsberuf "in Sicherheit" ausüben können. Die Tat greife "das Fundament unseres Rechtsstaats an", schrieb Justizminister Ferdinand Grapperhaus an das Parlament. Man habe die organisierte Kriminalität "wuchern" lassen. Die Antiterrortruppe NCTV wird nun den Fall übernehmen.

Besonders entsetzt reagierten Kollegen des Ermordeten. Einzelne Anwälte veröffentlichten Bilder von sich, mit dem Konterfei des Ermordeten in der Hand. Einige schrieben dazu: "Ich bin Derk Wiersum, Strafrechtsanwalt", in Erinnerung an die Solidaritätsaktionen nach dem Terroranschlag auf die Redaktion des Pariser Satireblattes Charlie Hebdo ("Je suis Charlie").

Die Amsterdamer Anwaltsorganisation erwägt als Reaktion einen stillen Protestzug durch die Stadt, ähnlich den Demonstrationen nach dem Absturz des Flugzeugs MH17 über der Ukraine. Am Nachmittag forderte sie dazu auf, die Flaggen an Gerichtsgebäuden auf halbmast zu setzen.

Wiersum hatte nach eigener Aussage mehrmals Todesdrohungen erhalten. Er hatte keinen Personenschutz, stand laut Medienberichten aber kurz bevor, sich private Beschützer zu organisieren.

Die Tat hat das Problem der schweren Bandenkriminalität und die Hilflosigkeit des Staates gegenüber extremer Gewalt im Milieu endgültig in die Mitte der Gesellschaft gerückt. Mit dem "brutalen Mord" sei eine "neue Grenze überschritten" worden, sagte der Amsterdamer Polizeichef Erik Akerbom. Die Unterwanderung des Landes durch Kriminelle müsse gestoppt werden. "Als Gesellschaft können wir das nicht akzeptieren."

Seit fast zehn Jahren tobt in der niederländischen Hauptstadt der sogenannte "Mocro-Krieg" zwischen mehreren Gruppen von Männern hauptsächlich marokkanischer Herkunft, die unter anderem im Drogenschmuggel und -handel aktiv sind. Begonnen hat er angeblich mit dem Verschwinden einer Kokain-Lieferung im Hafen des belgischen Antwerpen.

Morde, Brandanschläge und Entführungen im Milieu

Die Gruppen gelten als extrem brutal, es kam zu Enthauptungen und jährlich zu fast einem Dutzend Morden im Milieu. Sehr häufig wird über Schießereien auf der Straße berichtet, bei denen mehrmals auch Unbeteiligte zu Tode kamen.

Die Tat könnte verschiedene Folgen haben. Zum einen wird sie die Diskussion über eine andere Drogenpolitik befeuern. Seit einiger Zeit wächst die Unruhe in den Niederlanden über eine Zersetzung der Gesellschaft durch die Kriminalität, die sich aus dem Anbau von Drogen und dem Handel mit ihnen ergibt.

Der Sozialwissenschaftler Pieter Tops und der Journalist Jan Tromp haben in einem viel beachteten Bericht mit dem Fokus auf den Süden des Landes beschrieben, wie die Drogenkriminalität die Gesellschaft "unterminiert", weil schwerreiche Verbrecher die Politik auf mehreren Ebenen in ihrem Sinne beeinflussen und der Rechtsstaat über keine effizienten Mittel verfügt, sie in Schach zu halten. Das beschädige auch massiv das Vertrauen der Bürger in den Staat, schrieben sie in "Die Kehrseite der Niederlande". Die Polizeigewerkschaft nannte das Land daraufhin einen "Narko-Staat".

Dasselbe Autoren-Duo hat kürzlich im Auftrag der neuen Amsterdamer Bürgermeisterin Halsema die Problematik speziell in der Kapitale untersucht ("Die Kehrseite von Amsterdam"). Darin zeichnen sie das Bild einer Stadt, die in extremer Weise mit und von Drogen lebt und noch nicht realisiert zu haben scheint, wie viel Schaden die ostentative Liberalität auch gesellschaftlich anrichtet.

Amsterdam will das Problem mit Maßnahmen angehen, die unter dem Stichwort "die wehrbare Stadt" zusammengefasst werden. Unter anderem geht es um die Eindämmung von Waffengewalt und eine intensivere Zusammenarbeit verschiedenster Behörden.

Fraglich ist indes, in welche Richtung sich die Drogenpolitik bewegen wird. Was weiche Drogen betrifft, bleibt es vorerst bei der Duldung von An- und Verkauf. Einzelne Städte sind ausgewählt worden für einen Pilotversuch mit staatlich kontrolliertem Hanfanbau. Wissenschaftler wie Tops halten Legalisierung und Liberalisierung für falsch, andere sehen darin den einzig sinnvollen Weg, die wahre Ursache der ausufernden Kriminalität zu bekämpfen: die enormen Profite im Drogenhandel.

Daneben wird der Mord auch rechtspopulistische und/oder islamkritische Politiker wie Geert Wilders oder Thierry Baudet stärken, die in kriminellen Migranten und überhaupt in der Einwanderung die Wurzel allen Übels sehen. Vor allem Baudets Forum für Demokratie, ein Newcomer in der niederländischen Parteienlandschaft, schnitt jüngst bei Regional- und Europawahlen überraschend gut ab und lag vorübergehend in Umfragen auf Platz zwei hinter den Rechtsliberalen von Premier Rutte. Inzwischen ist die Partei wieder deutlich schwächer geworden.

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