Literatur:Musenküsse aus dem Netz

Literatur: "Es hat mich immer interessiert, wie sich der Schreibprozess verändert, wenn man ihn öffnet", sagt der Münchner Autor Thomas Lang.

"Es hat mich immer interessiert, wie sich der Schreibprozess verändert, wenn man ihn öffnet", sagt der Münchner Autor Thomas Lang.

(Foto: Peter von Felbert)

Online entwickelt, offline geschrieben: Thomas Langs Roman "Freinacht"

Von Yvonne Poppek

Wer möchte schon in Vierweg bleiben, in diesem heruntergekommenen Nest? Einst stand hier im Krieg eine Munitionsfabrik, später kamen die Flüchtlinge. Die Ansiedlung ist einsam, die nächste Stadt weit weg. Vierweg liegt irgendwo in Deutschland. Wo genau, lässt der Münchner Autor Thomas Lang offen. Er hat sich diese Ortschaft ausgedacht, wobei sie für ihn ursprünglich "Ingenhausen" hieß, ein Name, zusammengesetzt aus zwei Nachsilben. Unbedeutender geht es nicht. In Vierweg spielt sich die Handlung von Langs neuem, bemerkenswerten und dunklen Roman "Freinacht" (Berlin Verlag) ab. Obwohl fiktiv, hat Vierweg einen starken Bezug zum bayerischen Traunreut. Dort fanden in der Nacht zum 1. Mai 2006 alkoholisierte Jugendliche im Alter zwischen 13 und 17 Jahren die Leiche eines Selbstmörders. Sie verstümmelten sie so stark, dass die Polizei zunächst von einem Gewaltverbrechen ausging. "Freinacht" basiert auf den Meldungen zu dieser Tat. Und zugleich basiert es auf einem ungewöhnlichen Experiment.

Traunreut, Ingenhausen, Vierweg. Über diese drei Stationen spricht Thomas Lang, wenn er in diesen Tagen von "Freinacht" erzählt. Zunächst ist da natürlich Traunreut und die "Störung der Totenruhe" im Jahr 2006, für die letztlich drei Jugendliche verurteilt wurden. Der vierte Haupttäter wurde nicht belangt, er war zum Tatzeitpunkt erst 13 Jahre alt. Die Geschehnisse hätten ihn damals sehr beschäftigt, erzählt Lang. Aber nicht nur der Fall an sich habe ihn interessiert, sondern auch die Reaktionen in den Internetforen, die zum Teil sehr heftig gewesen seien. Die Kommentare habe er damals abgespeichert, sich erste Notizen gemacht. Dann verschwand die Idee für einen Roman in der Schublade.

Ingenhausen ist die zweite Station auf dem Weg zu "Freinacht". Und diese liegt nun ein wenig fernab von Traunreut. Sie liegt in der digitalen Welt. 2016 nämlich holte Lang die Roman-Idee aus der Schublade hervor. Den Anlass gaben Fridolin Schley und das Literaturportal Bayern. Es sollte darum gehen, die Möglichkeiten des Internets für die Literatur auszuloten. Lang stimmte diesem Projekt zu, es entstand die Seite "netzroman.thomaslang.net". Und dort stellte der Autor seinem Internetpublikum erst einmal seine Idee vor, teilte Fotos und Artikel, stellte Fragen zum Thema, zu eigenen Erfahrungen. Im Prinzip war es ein Einblick in seine Werkstatt. Wie beginnt Thomas Lang die Arbeit an einem Roman? Mitschreiben war nicht vorgesehen, dafür mitdiskutieren. Die Seite funktionierte wie in einem Blog. Wer kommentieren wollte, musste lediglich seine E-Mail-Adresse angeben.

Diese Vorgehensweise war für den 52-Jährigen, der zwar durchaus PC- und Internet-affin ist, ein Experiment. Im wesentlichen arbeitet er wie die meisten Autoren lange allein an seinen Texten bis zum Lektorat. Angst und Lust hätte ihm die Netzroman-Idee gemacht, sagt er. "Es hat mich immer interessiert, wie sich der Schreibprozess verändert, wenn man ihn öffnet." Nur eine Sache war unbehaglich: Im Internet wisse man nicht, wer kommt und kommentiert. Und ob es funktioniert.

Im Fall von "Der gefundene Tod" - so titelte Lang seinen Roman im Netz - ist es gut gelaufen. "Die Leute waren sehr wohlwollend", sagt Lang. "Manche sind die ganze Zeit geblieben." Die Daten hat der Autor am Ende seines Buches festgehalten: 270 Tage lief das Projekt im Internet, 126 Postings zogen 243 Kommentare nach sich. Die Seite wurde 38 035 Mal aufgerufen von 6386 Besuchern. In Zahlen: ein Erfolg. Parallel zu seinem Forum im Internet sprach Lang mit zwei Schulklassen über seine Figuren, das Setting, die Themen. Das bedeutete, noch einmal mehr Ideen. Doch was passierte mit all dem Input?

Lang kann die Ergebnisse genau benennen - und tut dies auch in seiner Nachbemerkung im Buch. So entstand beispielsweise die Nebenfigur Corinna, auch genannt "das Klischee", aus der Diskussion mit den Jugendlichen heraus. Im Internetaustausch ergab sich die Idee für das Hobby eines Protagonisten, nämlich das Basteln an einer Rube-Goldberg-Maschine. Und auch der Ortsname wurde dort geprägt: Aus Ingenhausen wurde Vierweg.

Am Ende der Projektlaufzeit stellte Lang die Entwürfe für die ersten Seiten seines Romans ins Netz. "Da war Druck da", erinnert er sich. Online müsse alle drei Tage etwas passieren, sonst werde die Seite uninteressant. Zudem müsse dies in den sozialen Medien mitgeteilt werden. "Das Internet ist viel aufwendiger, als etwas zu schreiben, auf Papier zu bringen und in die Läden zu stellen", sagt Lang. Irgendwann ging er dann offline. "Dann habe ich komplett neu angefangen." Er habe das Gefühl gehabt, alles wieder "Stück für Stück auf den Schreibtisch zu holen, dass es wieder meins wird."

Letzte Station Vierweg also, der Ort, der nun auf dem gedruckten Papier zu lesen ist. In seinem Roman erzählt Lang die Geschichte von einem Mädchen und drei Jungen. Er spürt diesem zerrissenen, jugendlichen Gefühl nach, vieles irgendwie zu wollen und doch oft nicht vorwärts zu kommen. Alle vier sind oft allein, Gespräche mit den Eltern sind eher die Ausnahme. Erzählt wird aus der Perspektive der Jugendlichen; Lang verzichtet auf einen allwissenden Erzähler, der am Ende womöglich die Tatmotivik erläutern würde. Den Hergang des Abends beschreibt er minutiös als Wendepunkt der Handlung.

Die Tat und deren Folgen muss der Leser aushalten. Dokumentarisch ist Lang dabei nicht, Figuren und Geschehnisse sind fiktiv. Ihn habe der Bruch im Leben eines jungen Menschen interessiert und die Folgen, sagt Lang. Die literarische Wahrheit im Buch sei nicht die Wahrheit der vier Traunreuter Jugendlichen. Lang hat sich wie von seinem Netzroman auch von der Ursprungstat unabhängig gemacht. Damit macht er klar: Die grauenhafte Verstümmelung hätte überall passieren können. "Ich habe das Konzept vom Menschen, dass wir alle alles in uns tragen", sagt er. Vierweg ist nicht nur irgendwo in Deutschland. Vierweg ist überall.

Thomas Lang: Freinacht, Buchpräsentation, Donnerstag, 26. September, 20 Uhr, Buchhandlung Lehmkuhl, Leopoldstraße 45

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