Rathauskonzert Vaterstetten:Kurzer Bogen, lange Wirkung

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Sechs Streicher des Bayerischen Rundfunkorchesters und der Münchner Hochschule bieten in Vaterstetten einen Genuss für Ohr und Auge. (Foto: Christian Endt)

Streichersextett aus Münchner Spitzenmusikern umfängt die Zuhörer mit einem spannungsgeladenen Geflecht wohlklingender Kräfte

Von Ulrich Pfaffenberger, Vaterstetten

Wie macht man einem enthusiastisch applaudierenden Publikum klar, dass es trotz aller Mühe keine Zugabe herbeiklatschen kann? Beim vierten Abgang von der Bühne greift der Konzertmeister im Vorübergehen nach den Noten an seinem Pult, klappt das Heft zusammen und schreitet, an der Spitze seines Ensembles, leichten Fußes von der Bühne. Der Beifall erlischt und die Zuhörer dürfen die Erinnerung an einen fulminanten Schluss von Tschaikowskys Streichsextett d-Moll, an einen musikalischen Orgasmus, mit nach Hause nehmen, an ein überwältigendes "Souvenir de Florence", das über jeden Nachklang erhaben war.

So geschehen am Sonntagabend beim ersten Rathauskonzert Vaterstetten nach der Sommerpause, so vollführt in aller Souveränität von Anton Barakhovsky, so elegant, dass die Szene einen extra Beifall wert ist, auch wenn dafür nun nur die Zeitungsseite raschelt. Sechs Streicher hatten sich im Saal des Seniorenparks eingefunden, vier von ihnen Mitglieder des Bayerischen Rundfunkorchesters, zwei weitere Dozenten an der Hochschule für Musik und Theater in München, um eine seltene Form der Kammermusik aufzuführen, das Streichsextett. Selten, weil Komponisten diese Form eher als spannendes Experiment betrachten, anders als die Königsdisziplin "Streichquartett", einem Genre mit fast schon genormten Spielregeln und hohem Wiedererkennungswert.

Was bei den ausgewählten drei Stücken von Alexander Borodin, Wolfgang Amadeus Mozart und eben Pjotr Iljitsch Tschaikowsky denn auch auffiel, waren ihre intensiven, ausführlichen Dialoge. Zwei Violinen, zwei Violas und zwei Celli erlauben eben eine viel größere Bandbreite an Variationen des Zu- und Zusammenspiels als im kleineren Quartett. Aus den drei Tonlagen entsteht ein spannungsgeladenes Geflecht musikalischer Kräfte, innerhalb derer sich ein Zuhörer umgeben fühlt von Klängen, geschützt vor Störungen und Anwandlungen von außen.

Zur Vollkommenheit dieser Wahrnehmung gehören indes sechs Streicher, die über die individuelle Klasse und das perfektionierte Miteinander verfügen wie Anne Schoenholtz (Violine), Roland Glassl und Nicola Birkhan (Viola), sowie Julian Steckel und Lionel Cottet (Violoncello), die mit Anton Barakhovsky in einem namenlosen, gleichwohl merkenswerten Ensemble konzertierten. Selten sieht und hört man in solcher Dichte und Qualität den Wert und die Wirkung des "kurzen Bogens" wie bei diesem Sextett. Man darf den Auftritt in Vaterstetten getrost als Vorbild und Maßstab für das intelligente, dynamisch hoch differenzierte Spiel von Streichinstrumenten nehmen. In der Art und Weise, wie die sechs Musiker ihre ausgefeilte Spieltechnik demonstrierten, ergab sich daraus nicht nur ein Genuss fürs Ohr, sondern auch fürs Auge.

Der Folklore und Dramatik in Borodins d-Moll-Sextett verschafften sie so eine intensive Fülle und einen so lebhaften Farbwandel, dass man weinen möchte angesichts des rätselhaften Verschwindens des dritten Satzes nach einem Konzert in Heidelberg, von dem Hanspeter Krellmann im Vaterstettener Programmheft berichtet. So viel verspricht der erste Satz, so erregend flirrt der zweite: Wie viel Hommage an Mendelssohn hätte uns da wohl in der Folge erwartet? Welche Bühnen hat der Komponist den Instrumenten dort wohl bereitet? Es ist eine Kunst, eine unvollendete Geschichte so zu erzählen, dass man sich ihr Ende träumen kann - dieses Sextett beherrscht sie.

Ganz das Gegenstück der Mozart. Ein fröhlich-bunter Strauß an Ideen hat sich beim "Rückbau" der "Sinfonia concertante" KV 364 in das "Grande Sestetto concertante" durch einen unbekannten Komponisten erhalten, dessen Arbeit aller mozartschen Ehren wert ist. Auf einem fröhlichen Beginn, bei dem die Celli wie die Fänger am Trapez die Volten der Violinen und Violas in der Luft halten, folgen Gedankenflüge der Zuhörer im überaus poetischen zweiten Satz, bevor das abschließende Presto in ein furioses Feuerwerk aus Sechzehnteln und Zweiunddreißigsteln mündet, das den Puls nach oben treibt. Gut, dass danach eine Pause folgte, um bereit zu sein für die sprühenden Ideen Tschaikowskys, einen berauschenden Cocktail aus Kontrapunkt, einen schwebenden Tanz durch ein filigranes Gefüge von Melodie, einen reißenden Fluss, in dem die Instrumente das Wasser und die Musiker die Flößer sind, die ihre Anbefohlenen in einem packenden Ritt ans Ziel bringen - und damit jenen unbandigen Wunsch nach Zugabe auslösen, dem sie sich jedoch, zu Recht, entziehen.

© SZ vom 24.09.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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