Literatur und Krebs:Das Sterben der anderen

Ein Buch über Krankheit kann nicht anders, als den Leser zu peinigen. Darf man öffentlich über seinen Krebs sprechen?

Burkhard Müller

Von vier Bewohnern dieses Landes wird einer an Krebs erkranken; und ein großer, ein sehr großer Teil der Erkrankten wird daran sterben. Keiner kann sich davor schützen, auch die allergesündeste Lebensweise bewahrt nicht davor; jeden kann es jederzeit treffen, in vielerlei Formen und an allen Organen; Organen, an deren Vorhandensein der gesunde Mensch nie gedacht hat, am Omentum, der Fettmembran, die die Eingeweide einhüllt, am Zwölffingerdarm, am Zungenboden; und immer so, dass die Diagnose sofortige und nur allzu berechtigte Todesangst auslöst.

Literatur und Krebs: Christoph Schlingensief hat aus seiner Krankheit ein Buch, ein Theaterstück und eine Homepage gemacht.

Christoph Schlingensief hat aus seiner Krankheit ein Buch, ein Theaterstück und eine Homepage gemacht.

(Foto: Foto: ddp)

Keine andere Krankheit ruft bei ihrer bloßen Erwähnung solches Entsetzen hervor; sie spielt in unserer wohltemperierten, wohltherapierten, der Tragik so weit wie möglich abgekehrten Gesellschaft den Part des blinden, heimtückischen Schicksals, das seine Zähne ins Fleisch des Opfers schlägt und nicht ablässt, bis es tot ist.

Da es sich so verhält und jeder das auch weiß, erstaunt die Debatte der jüngsten Zeit darüber, ob Literatur sich mit dieser Krankheit und diesem Leiden (denn beides wird sorgfältig geschieden: Krankheit meint den biophysischen Befund, Leiden die gesellschaftliche Wertigkeit und das individuelle Erleben) überhaupt beschäftigen sollte.

Und wenn das zugestanden wird, dann werden doch Zweifel laut, ob die grässlichen Details in ihrem engen Fokus auf das Ich oder den nächsten Angehörigen dem Leser nicht besser erspart würden. Banalität und Taktlosigkeit werden beklagt - als wären Angst und Schmerz für den, dem sie widerfahren, jemals etwas Banales: Riesengroß müssen sie für ihn werden.

Dass Tausende das je für sich durchmachen müssen, diskreditiert nicht den Stoff, im Gegenteil: Literatur hat schon immer ihre Legitimation daraus bezogen, dass sie im präzis wiedergegebenen Einzelnen plötzlich hervortreten lässt, was alle betrifft.

Bei der Liebe, neben dem Tod angestammtes Hauptthema der Literatur, mag es entbehrlich sein, die darin verwickelten Körperteile und -funktionen Stück für Stück aufzurufen, um das Erlebnis zu beglaubigen. Ein Liebesroman muss nicht pornographisch sein, denn Liebe entgrenzt. Ein Krebsroman wird auf diese pornographische Sicht des Körpers nicht verzichten können, denn das Furchtbare der Krebs-Erfahrung besteht eben darin, dass sie der Seele die eiserne Grenze des Körpers setzt.

Welche Ruhe?

Ein Buch vom Krebs kann nicht anders, als den Leser zu peinigen, mit dem Schaurigen, das sich am befallenen Körper zuträgt, aber auch mit den Alltäglichkeiten, in denen er dabei gefangen bleibt. Bis zu einem gewissen Grad kann man also Richard Kämmerlings verstehen, wenn er einen Artikel in der FAZ mit den Worten beginnt: "Lasst mich mit eurem Krebs in Ruhe" und endet: "Lasst uns mit eurem Krebs, eurem Schlaganfall, eurer Leberzirrhose, eurer Schweinegrippe in Ruhe. Erzählt von dem, was zählt, und nicht von Tumormarkern. Erzählt vom Leben. Das Ende kennen wir schon."

Doch dass wir das Ende schon kennen, stellt eine reichlich verwegene Behauptung dar; vor allem im "Wir". Das eben ist das Furchtbare des Endes, dass es jedem für sich bevorsteht. Das Unbekannte tritt jeden in völliger Einsamkeit an, deswegen hat er ja solche Angst davor.

Man muss dem Autor dieser Passage dann doch die Antiklimax verübeln, die vom Krebs hinunter zur Schweinegrippe führt, in der Absicht, dem Krebstod den bösen Zauber abzusprechen, den er doch unter allen Umständen behält. Warum denn sollten Tumormarker nicht zählen? Und wie die zählen! Denn bei ihnen geht es ums Leben und nichts sonst. Von dem, was sich da zuträgt, sollten auch die Gesunden Kunde erhalten: Denn sie könnten sich von einem Tag auf den anderen in Kranke verwandeln. Von dem zu sprechen, was viele noch nicht kennen, aber für alle Wichtigkeit gewinnen könnte, das eben ist die Aufgabe von Literatur.

Mit dem "Wir" des Zeitungsartikels liegt noch etwas anderes im Argen. Es setzt den Begriff einer Öffentlichkeit voraus, die es so nicht mehr gibt. Wer ein bisschen durchs Internet surft, stößt auf Seiten und Blogs der Betroffenen, der Kranken und ihrer Angehörigen, die das Thema Krebs und wie davon zu reden sei, auf ihre eigene Weise behandeln.

Lesen Sie weiter auf Seite 2, warum Schweigen nicht hilft.

Das Ende kennen wir schon?

Die Seite "geschockte-patienten.de" fordert auf: "Stehen Sie zu Ihrer Krankheit - Schluss mit der Geheimniskrämerei! Die Krankheit will über Sie bestimmen. Sie sind aber auch noch da! Zeigen Sie es!" und fragt: "Wann veröffentlichen Sie Ihre Krankenakte?" Unter Veröffentlichung begreift diese große Community etwas völlig anderes als besagter Artikel. Dass öffentliches Sprechen an ein Forum gebunden sein soll, in das alle Straßen der Gesellschaft münden und bei dem der Zugang infolgedessen restriktiv zu handhaben sei, dafür gibt es hier kein Verständnis. Flammend wird hier Christoph Schlingensief verteidigt (der auch selbst massiv mitmischt) und wütend Martin Angele angegriffen, der sich im Freitag ähnlich geäußert hatte wie Kämmerlings in der FAZ.

Er hatte "Verzicht" angeraten und die wahre Größe im Umgang mit dem Krebs im Schweigen erblickt. Das Problematische an dieser Empfehlung erkennt aber auch er sehr wohl: "Wer beschließt, ein Buch nicht zu schreiben, weil ihn die Scham durchdringt, muss schon darauf hoffen, dass Gott anstelle des Marktes und des Publikums tritt und er auch wirklich, wie geschrieben steht, alles sieht."

Literatur tritt uns immer zu nahe

Mit anderen Worten: Schweigen als ein bestimmtes, interpretierbares Verhalten lässt sich nur dort einsetzen, wo von jemandem erwartet wird, dass er spricht, also klare Privilegien den Zugang zum Medium regeln. Der klassische Begriff von Öffentlichkeit wird hier auf einmal als ein aristokratisches Konzept kenntlich.

Dem tritt die Community mit ihren "Patientenbriefen" entgegen. Im Schweigen vermag sie nur das Verstummen zu erkennen, welches ein schweres Unglück noch um die Schmach der Missachtung und Vereinsamung vermehrt. "Öffentlichkeit ist nichts weiter als eine Ressource", heißt es da, "und jeder, der sie zu nutzen weiß, kann sich ihrer für seine Zwecke bedienen."

Es spricht für Martin Angele, dass er nicht auf dem durch die Zeitung gestifteten Privileg beharrt, sondern von seinem Ross herunterkommt, um sich an den Diskussionen im Netz zu beteiligen. Er benennt dort auch seine Voraussetzungen und Gewährsleute, besonders den Soziologen Richard Sennett mit dem Buch "Verfall und Ende des öffentlichen Lebens. Von der Tyrannei der Intimität".

Die persönlichsten Dinge

Man muss dieses Buch nicht kennen, um schon dem Titel anzuhören, dass hier einer hoffnungslos seiner Zeit hinterherhinkt. Veränderung erscheint, da das Neue nicht durchschaut wird, als denkbar nur im Modus des Niedergangs; und wer sich auf die Patientenbriefe und Auseinandersetzungen einlässt, der wird auf keine Tyrannei treffen, sondern auf einen achtungsvollen und intelligenten Diskurs um persönlichste Dinge, die eigenen und die der anderen.

Verstöße gegen den impliziten Komment werden prompt und scharf gerügt und unterbleiben danach. Es tauchen Argumente auf, die im Diskurs der privilegierten Öffentlichkeit bislang durchaus fehlen, z.B.: "Was mich richtig anstinkt, ist dieses Gegen-den-Krebs-ankämpfen-Gehabe, das quasi jedem Erkrankten aufgeschwätzt und von ihm als Haltung erwartet wird. So ein Blödsinn. Wer Krebs hat, hat Krebs. Da gibt es nichts zu kämpfen. Der Mensch ist nicht Herr seiner selbst. Aber das ist er immer schon. Nur manchen fällt es eben erst durch die Krankheit auf." So schreibt "Titta", die statt eines Bildes von sich das Foto eines Spielzeugtiers einstellt.

Und "Socanalytica" (gleichfalls ohne Bild) merkt an: "Wenn es gelingt, ist es erfreulich, aber ausschlaggebend ist das dann nicht mehr - es geht nicht mehr um Kunst, sondern ums Sterben."

Das ist ein stichhaltiger Gesichtspunkt. Die literarische Kritik täte gut daran, sich erstens zu erinnern, dass Bücher einem größeren Feld angehören, in dem es viele andere Äußerungsformen gibt. Gelassen hat Jürgen Leinemann, auch er Verfasser eines Buchs über seinen Krebs, zu den Vorwürfen, er mache um sich und seine Krankheit zu viel Wesens, gesagt, es würden öffentlich so viele Bagatellen verhandelt, "da kann man vielleicht auch ein bisschen Krebs aushalten."

Und zweitens sollte man daran denken, dass auch Bücher noch andere Aufgaben haben als die, Literatur im emphatischen Sinn zu sein: Sie trösten, raten, informieren, machen Schmerz kenntlich und erträglich, zerstreuen und führen Gleichgesinnte zueinander. Das soll nicht heißen, dass man solche Bücher nicht kritisieren dürfte. Man muss es tun, wenn sie kalt, ungenau, ignorant, seicht, sentimental oder wichtigtuerisch sind. Aber nicht, weil sie uns zu nahe träten. Das tut nämlich auch "Literatur" prinzipiell immer.

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