Frankreich:Macron wagt sich an sein heikelstes Schicksalsprojekt

France Macron

Das Profil des französischen Präsidenten Emmanuel Macron

(Foto: AP; Bearbeitung SZ)
  • Nach der Revolte ist vor der Reform: Nach einigem Zögern geht Macron nun die Rentenreform an - sie ist sein ehrgeizigstes Vorhaben.
  • Es gehört zu versprochenen "Verwandlung Frankreichs" und alle Bürger werden betroffen sein.

Von Leo Klimm, Paris

Eisenbahner, Piloten, Ärzte, Krankenpfleger und Anwälte haben schon gestreikt - präventiv. Die Beschäftigten der Pariser Stadtwerke RATP haben Mitte September sogar einen Tag lang den Nahverkehr in der französischen Hauptstadt lahmgelegt. Und das war nur die Aufwärmübung: Von 5. Dezember an, so haben es die Gewerkschaften angekündigt, treten die RATP-Mitarbeiter in Paris sowie Bahner und Lastwagenfahrer im ganzen Land in den unbefristeten Ausstand. Gegen eine Rentenreform, deren präzise Parameter zwar noch nicht bekannt sind, die aber bereits zu der aparten Allianz von Lokführern und Rechtsanwälten führt. Sie alle eint die Angst, sie könnten die Verlierer von Emmanuel Macrons großem Rentenplan sein.

Frankreichs Staatspräsident mag seit seiner Wahl 2017 einige - zumeist unternehmensfreundliche - Reformen durchgesetzt haben. Er hat die Vermögensteuer abgeschafft, die Kapitalertragsteuer gesenkt, das Arbeitsrecht vereinfacht, Einschnitte bei den Leistungen für Arbeitslose gesetzt. Er hat auch mit einem Milliardenpaket Geringverdiener bessergestellt. Sein ehrgeizigstes und heikelstes Vorhaben aber bei der versprochenen "Verwandlungs Frankreichs" ist die nun bevorstehende Rentenreform: Von ihr sind alle Bürger betroffen. Privilegien sollen fallen, Extrawürste für Lokführer oder Anwälte abgeschafft werden. Macron will die heute 42 verschiedenen staatlichen Pflichtversicherungen des Landes zu einem "Universalsystem" zusammenführen.

Beim letzten Reformversuch 1995 trat die Regierung nach wochenlangen Streiks zurück

Weil die Ängste groß und die Widerstände schon zu spüren sind, beginnt der Präsident an diesem Donnerstag im südfranzösischen Provinzstädtchen Rodez eine Tour de France, auf der er für seinen Plan werben will. Das Projekt hat ein Vorbild: Im Winter war es ihm gelungen, mit seinen stundenlangen, live im Fernsehen übertragenen Bürgersprechstunden, grand débat genannt, die Revolte der Gelbwesten einzuschläfern.

Für Macron ist die Reform mindestens so kritisch wie die Revolte. Gelingt sie, dürfte er als furchtloser Macherpräsident in die Geschichte eingehen. Scheitert er aber an der Verweigerung der "störrischen Gallier", wie er seine Landsleute nennt, wird ihm dieser Makel für alle Zeit anhaften. Das letzte Mal, dass eine französische Regierung eine radikale Rentenreform probierte, gab sie nach wochenlangen Streiks auf und trat zurück. Das war 1995.

Macron steckt im Dilemma. Er kann sich keine Niederlage leisten - sein Wahlversprechen eines gerechteren Rentensystems kann er aber auch nicht fallen lassen. Also versucht er es mit einem neuen Stil, er hat aus der Gelbwesten-Krise gelernt: Anders als bei den Reformen zu Beginn seiner Amtszeit geht er nicht mehr so forsch vor, sondern zeigt sich dialogbereit.

"Manchmal wurde meine Ungeduld als Ungeduld mit den Bürgern empfunden", so Macron jüngst im US-Magazin Time. "Aber das ist nicht der Fall." Tatsächlich wirken er und sein Premierminister Édouard Philippe jetzt bei der Rente fast schon verzagt: Seit Monaten schieben sie das Projekt vor sich her; erst im Sommer 2020, nach den Kommunalwahlen im März, soll das Gesetz beschlossen werden.

Auseinandersetzung anderer Art

Der Widerstand, den Macron und Philippe fürchten, ist anders als jener der Gelbwesten. Die Aufständischen in gelb waren oft Menschen, die sich von keiner Gewerkschaft und keinem Verband vertreten fühlten. Mit dem Angriff auf die 42 berufsständischen Rentenkassen legt sich die Regierung dagegen just mit Gruppen an, deren Interessen gut organisiert sind. Für Frankreichs müde Gewerkschaften könnte die Rentenreform geradezu belebend wirken.

Allerdings haben sich die Zeiten seit dem Reformfiasko von 1995 geändert. Heute können sich die Gewerkschaften, die vor allem Beschäftigte aus dem öffentlichen Dienst und aus Staatsfirmen vertreten, der Unterstützung der Bevölkerung nicht mehr gewiss sein. Umfragen zeigen, dass viele die geplante Abschaffung der Sonderkassen für bestimmte Berufsgruppen wünschen. Ein weiterer, großer Teil der Bürger hat wiederum noch nicht entschieden, ob er für oder gegen die Reform ist.

Mit Macrons Auftritt in Rodez beginnt damit ein monatelanger Kampf um die Mehrheitsmeinung in Frankreich. Der Präsident wird seine Reform als Gebot der Gerechtigkeit bewerben. Die Gewerkschaften werden die Auflösung der Parallelsysteme als Attacke auf soziale Errungenschaften anprangern, die es mit allen Mitteln zu verteidigen gilt. "Das Ziel der Regierung ist, zu sparen und dass wir länger arbeiten", empört sich Philippe Martinez, der Chef der kommunistisch geprägten CGT. Ein Vorteil für Macron: Das Gewerkschaftslager ist nicht geschlossen. Die CFDT, schärfste Rivalin der CGT, widersetzt sich dem Rentenvorhaben nicht grundsätzlich.

Dass es im Kern um die Verlängerung der Lebensarbeitszeit geht, verhehlt die Regierung nicht. Derzeit sind die Regeln für den Ruhestand je nach Kasse sehr unterschiedlich: Die Mitarbeiter der Pariser Verkehrsbetriebe, deren System großteils aus Steuergeld querfinanziert wird, können schon mit 52 Jahren in Rente gehen. Die Beschäftigten privater Unternehmen dürfen das hingegen erst mit 62 - und tun es effektiv durchschnittlich mit 63. Das gegenwärtige System ist außerdem komplex, die Arbeitnehmer haben bei ihrem Renteneintritt im Durchschnitt in drei verschiedene Systeme eingezahlt.

Macron möchte dieses Wirrwarr nach einer Übergangszeit durch ein einheitliches Entgeltpunktesystem ablösen, in dem "jeder eingezahlte Euro gleiche Ansprüche begründet" und das Anreize für längeres Arbeiten setzt. Das neue Modell werde auch Geld an Menschen mit kleiner Rente umverteilen und Ungleichheit zwischen Frauen und Männern korrigieren, verspricht die Regierung. Nicht zuletzt soll Frankreichs Rentensystem dauerhaft vor einem Defizit bewahrt werden.

Zu den entscheidenden Details aber schweigt die Regierung bisher. Etwa dazu, welche Jahrgänge von der Umstellung betroffen sein werden. Oder dazu, zu welchen Konditionen die vorteilhaften Sonderkassen in das neue Modell überführt werden. Sicher ist: Von der diskutierten Anhebung des gesetzlichen Rentenalters auf 64 Jahre hat der Präsident neulich schon Abstand genommen. Die Extrakassen von Armee und Polizei sollen unangetastet bleiben. Und für Menschen, die jung zu arbeiten begonnen oder besonders anstrengende Jobs haben, verspricht seine Regierung weiter Sonderregeln.

Der Präsident macht also schon ein paar Zugeständnisse - präventiv. Die Gewerkschaften streiken - auch präventiv. Der Kampf um Macrons wichtigste Reform kann beginnen.

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