Kunstaktion:Grenzerfahrung

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Das Duo Wolfgang Aichner und Thomas Huber hat den USA mit einem Riesen-Stift einen neuen Freistaat eingeschrieben

Von Michael Zirnstein

Als Grenzzieher waren sie auf Widerstand aus. Und so freuten sich Wolfgang Aichner und Thomas Huber insgeheim beim Anblick des Polizei-Jeeps, der auf der Schotterpiste in der Red Desert auf sie zuhielt. Umso mehr, als ein Sheriff ausstieg, sich vor ihnen aufbaute und sie musterte. Dass Huber einen vier Meter langen, silbernen Kugelschreiber hinter sich herschleppte, interessierte den Ordnungshüter dabei weniger. Vielmehr schien ihn eines zu stören, was die beiden Männer in seinen Augen höchst verdächtig machte: "Warum tragt ihr Anzüge?"

Eine gute Frage. Die tiefer geht, als es der Polizist ahnen konnte. Für ihn zeigten die schwarzen Jacken und Hosen, die weißen Hemden und die Krawatten nur: Diese beiden Männer gehören nicht hierher. Niemand trägt im Mittleren Westen der USA draußen auf dem Land Anzug. Höchstens Mormonen beim Bekehren - und für solche sollten die beiden Münchner Künstler auch bald gehalten werden.

"Zuhause ziehe ich nie einen Anzug an", sagt Thomas Huber heute, zwei Jahre nach dem Projekt "Linear", "für mich war das die totale Verkleidung." Genau dadurch erreichte die Landart-Performance-Kunst des Duos GÆG (Global Aesthetics Genetics) eine neue Ebene. Anfangs standen eine Aktion, eine Installation oder ein Werk im Mittelpunkt. Etwa bei ihrem weltweit Furore machenden Kraftakt "Passage 2011", als sie ein fünf Meter langes rotes Boot von Hand über einen Alpengletscher zur Biennale in Venedig schleiften - da war das Schiff die Diva, sie waren die Gehilfen in Outdoor-Klamotten.

Bei "Linear" gingen sie ganz auf in einem Rollenspiel. Die Idee, auf einer 600 Kilometer langen Linie ein 20 000-Quadratkilometer einschließendes Rechteck über vier Staatengrenzen inmitten der USA zu ziehen, dem "Land Of The Free" also einen eigenen Freistaat oder "State Of the Art" in den Staub zu latschen, war stark. Aber da der mitgeschleppte überdimensionierte Stift ("Demarkationsgerät") statt einer Tintenkugel nur über ein Laufrad verfügte, die Linie in der Landschaft also meist unsichtbar bleiben würde, brauchte es noch etwas, das ins Auge fällt: "Das Bild von zwei Staatsmännern, Maklern oder Geschäftsleuten lag auf der Hand", sagt Wolfgang Aichner. "Wir sind dann immer mehr in die Rolle hineingewachsen", ergänzt Thomas Huber, "ich war schon fast eine gespaltene Persönlichkeit." Sobald die beiden den Stift in einer Art Kraxe auf den Rücken schnallten, auf den Handwagen oder den Fahrradanhänger, wurden sie zu den Penman H. und Penman W., eine Art Art-Men in Black, wortkarge, bedürfnislose Agenten für nichts und wieder nichts, "Avatare für ein Freiheitsbedürfnis" - die im Verlauf des dreiwöchigen Projekts allerdings immer verstrubbelter wirkten, gar Emotionen entwickelten und sich bei Schneeeinbruch lange Unterhosen genehmigten.

Die Idee von Wolfgang Aichner und Thomas Huber: auf einer 600 Kilometer langen Linie ein 20.000-Quadratkilometer einschließendes Rechteck über vier Staatengrenzen inmitten der USA zu ziehen. (Foto: GÆG / Wolfgang Aichner, Thomas Huber)

Das freilich wäre als Erklärung für den Sheriff zu kompliziert gewesen. Und als er die zweite Frage nachschob, "warum" sie das denn täten, antwortete Huber nach Art eines echten Penman ausweichend: Man begehe keine rechtswidrige Tat, und von einer illegalen Grenzziehung könne keine Rede sein. Der Beamte ließ sie schmunzelnd ziehen, Menschen mit verrückten Ideen sind in den USA etwas Normales.

Und doch erregten die beiden Münchner mit ihrer Sinnsuche im Nonsense Aufsehen. Zu Fake-Pressekonferenzen erschienen tatsächlich Lokal-Reporter. Ein Fotojournalist der Salt Lake City Tribune begleitete sie eine Weile - der Artikel über die beiden Deutschen mit dem Riesenstift verbreitete sich über die dpa bis auf Seite 1 einer thailändischen Zeitung. Sogar Fox News meldete sich an, der Haus-und-Hof-Sender vom grenzenbesessenen Präsident Trump, dem GÆG so gerne kunstvoll seine Grenzen aufzeigen wollten. Aber wegen des Attentats in Las Vegas gab es dann keinen Platz mehr für sie. "Das wär's gewesen", sagt Huber.

Aber sie wurden im Verlauf von "Linear" eh immer unpolitischer. "Ich bin mit einer linksanarchistischen Grundhaltung gestartet, alle Grenzen seien eine Geißel der Menschheit." Je länger sie liefen, umso mehr löste sich auch dieses beschränkte Denken auf. Aichners sich immer mehr weitende Gedanken kann man nun in Tagebucheinträgen - neben irritierend schönen Landschaftsaufnahmen mit meist nur einem der Kuli-Kollegen darauf (der andere musste filmen und fotografieren) - im Buch zu "Linear" verfolgen. Territorien abzustecken sei ein animalischer Urtrieb und gehöre so auch zum Verhalten des Homo sapiens. Grenzen in Sprache, Verwaltung und Kultur seien hilfreich, schützend oder bereichernd. "Nur im Überschreiten von Grenzen kann man Freiheit verspüren", sagt Aichner. Sobald aber "eine Grenze gemauert ist, im Sinne eine Landnahme, die jemanden ausschließt, gehört sie abgeschafft".

Ihre virtuelle Grenze schaffte Verbindungen. Bei der Abschlusspressekonferenz in Vernal kam eine Schulklasse an, die drei Wochen lang die Aktion im Kunstunterricht verfolgt hatte. Einmal in den Uinta Mountains hielt wieder ein Pkw an. Der Fahrer freute sich riesig: "Ihr seid die Penman, ich habe Euch gefunden!" Der Mann war vier Stunden von Salt Lake City aus in die Prärie gefahren, neben sich den Laptop mit den in Echtzeit übermittelten Geo-Daten des Linear-Trackingsystems.

"Warum tragt ihr Anzüge?" Das fragte ein Polizist die Münchner Künstler, als sie gerade in der Red Desert eine Linie in den Sand zogen. Eine Antwort darauf: Die Aktion war auch als Rollenspiel angelegt. (Foto: GÆG / Wolfgang Aichner, Thomas Huber)

Man kann diese Begegnungen auch in einem Film sehen, den sie gerade bei einem Festival in Tschechien gezeigt haben. Nun wird er in der Münchner Rathausgalerie nach einer kinoartigen Premiere noch drei Tage lang in einer Installation zu sehen sein. Der Film ist bereits für einen Naturfilmpreis nominiert, aber mehr als eine Dokumentation ist er selbst ein Kunstwerk, an dem Huber zwei Jahre lang gearbeitet hat. Im Design eines Computer-Adventure-Games werden die Penmen darin herumgeklickt und in Aufgaben geschickt (etwa die Überreste des Penman Ai Wei Wei in einer Geisterstadt zu finden). Zufallsbekannte wie einen Farmer macht Huber mit Ton- und Bildmanipulationen zu Agenten eines dubiosen "Departement of Home Concerns". Und unter den jahrhundertealten Petroglyphen der Ute-Indianer finden die beiden freilich einen Urahnen der Penmen in den Fels geritzt: ein Strichmännchen mit Riesenkuli. Der Film ist ein faszinierendes wie absurdes Spiel mit Wunsch, Wahn und Realität in einer unwirklich schönen Szenerie. Das wäre der Schlussstrich unter "Linear", würden die Gedanken nicht weiterwandern: "Man könnte noch einen Reiseführer machen zu den schönsten Planquadraten der USA."

Linear , Filmpremiere: Fr., 4. Oktober, 19 Uhr; Installation: Samstag/Sonntag, 5./6. Oktober, 11-19 Uhr, Rathausgalerie München

© SZ vom 04.10.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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