Film:Einer für alle

Als Regisseur ist Tim Trachte enorm vielseitig und derzeit gut beschäftigt. Der Münchner hat "Benjamin Blümchen" ins Kino gebracht und bei einer Netflix-Serie mitgeholfen. Nun startet "Dem Horizont so nah", ein junges emotionales Aids-Drama

Von Josef Grübl

Dieses Mal siegt die Liebe. Bei Tim Trachte siegt sie aber nicht im Kino, zumindest nicht auf jene Weise, wie Romantiker sich das vorstellen - dafür aber im Internet: Dort sind die Fans seines neuen Films "Dem Horizont so nah" in heller Aufregung, sie überbieten sich in Zuneigungsbekundungen und senden virtuelle Herzen. Das ist bemerkenswert, weil die wenigsten von ihnen den Film gesehen haben können - er läuft erst an diesem Donnerstag in den Kinos an. Noch bemerkenswerter ist diese Fan-Liebe, wenn man sich sonst so im Netz umschaut: Bei Youtube reicht meistens schon das Label "deutscher Film", und schon hagelt es Hasstiraden und Beleidigungen. Bei Trachtes vorletzter, erst im August angelaufenen Regiearbeit hat der Verleih die Kommentarfunktion deaktiviert, dabei handelt es ich bei "Benjamin Blümchen" um einen harmlosen Kinderfilm. Da macht man sich fast Sorgen um die geistige Gesundheit der Kommentatoren, um ihre Umgangsformen und die Unfähigkeit, andere Meinungen oder Neigungen gelten zu lassen.

Auch "Dem Horizont so nah" wird nicht jedermanns Geschmack treffen, dafür ist der Film viel zu emotional und dramatisch. Er wendet sich an ein junges, weibliches Publikum, wie Tim Trachte bei einem Gespräch auf der Terrasse eines Restaurants in der Leopoldstraße bestätigt. Das ruhige Café, in dem man ursprünglich verabredet war, hat zu, also wird umdisponiert. So etwas passiert beim Film ständig, der Regisseur bleibt also ganz entspannt, der Trubel im Ausweichlokal scheint ihm nichts auszumachen. Zwei Tage zuvor war er bei der Premiere seines eigenen Films im Mathäser-Kino, da ging es noch viel turbulenter zu - auch wenn alle Aufmerksamkeit den Hauptdarstellern Luna Wedler und Jannik Schümann galt. Die junge Schweizerin spielt ein braves Provinzmädel, das sich in einen geheimnisvollen Schönling verliebt, der Karriere als Kickboxer macht, als Model arbeitet - und HIV-positiv ist. Das ist umso dramatischer, da die Geschichte in den Neunzigerjahren spielt und die Überlebensaussichten mit dieser Diagnose damals ganz andere waren als heute.

Film: Tim Trachte hat stets seine Zielgruppe im Blick.

Tim Trachte hat stets seine Zielgruppe im Blick.

(Foto: Robert Haas)

Die Autorin Jessica Koch hat sie selbst erlebt, ihre Liebe zu Danny endete tragisch. Das ist wohl auch der Grund, warum die Resonanz im Internet so positiv ist: Die Leserinnen leiden mit und freuen sich auf die Verfilmung, kritischen Stimmen halten sie entgegen: "Aber es ist doch genau so passiert." Es scheint auch niemanden zu stören, dass die Romanvorlage literarisch nicht viel hergibt, der Schreibstil ist schlicht - und wer sich nicht für 20-jährige Männermodels begeistern kann, legt das Buch ohnehin nach wenigen Seiten entnervt zur Seite. Von den Feuilletons wird es ignoriert, was aber keine Rolle spielt. Seit seinem Erscheinen im Jahr 2016 verkauft es sich mehrere Hunderttausend Mal.

Bald melden sich die ersten Filmproduzenten, den Zuschlag bekommt die in München ansässige Firma Pantaleon Films von Dan Maag und Matthias Schweighöfer. Die HFF-Absolventin Ariane Schröder soll das Drehbuch adaptieren, Anfang 2018 kommt Tim Trachte als Regisseur an Bord. "Die erste Drehbuchfassung hat mir nicht gefallen", gesteht er beim Treffen in Schwabing und kratzt sich am graumelierten Dreitagebart. "Ich wollte die Geschichte nicht verharmlosen", sagt er, "mir war aber klar, dass es ein emotionaler Stoff ist, der Potenzial hat für ein großes Publikum."

DEM HORIZONT SO NAH

Bei der Verfilmung von Jessica Kochs autobiografischem Bestseller-Roman "Dem Horizont so nah" (im Bild Jannik Schümann und Luna Wedler) schielt der Regisseur Trachte explizit auf junge Zuschauerinnen.

(Foto: Bernd Spauke/Studiocanal)

Das ist Trachtes Stärke, er stellt sich auf seine Projekte ein, überlegt sich, wen und was er damit erreichen will - und setzt das dann so um. "Wir hatten ein sehr interessantes erstes Treffen", sagt die Pantaleon-Produzentin Kristina Löbbert am Telefon und erinnert sich an die Vorschläge des Regisseurs, wie man die Geschichte besser erzählen könnte. "Danach fragte ich mich: Wer bewirbt sich hier eigentlich bei wem", erzählt sie lachend. Diese Entschlossenheit sieht man Tim Trachte nicht unbedingt an, er gibt sich beim ersten Treffen ruhig und zurückhaltend.

Er ist Jahrgang 1976 und wächst in Moosach auf. Sein Bruder Nick betreibt das über die Stadtgrenzen hinaus bekannte "Boxwerk", auch Tim Trachte interessiert sich für den Boxsport. Als junger Mann singt er und spielt Gitarre in Lokalbands, er nimmt Saxofon-Unterricht und studiert an der LMU Dramaturgie. Nach einem Jahr in New York, wo er sich zum Filmeditor ausbilden lässt und Kurzfilme dreht, steht sein Berufswunsch fest: Er will Regisseur werden. Also bewirbt er sich an der HFF und wird beim zweiten Anlauf genommen. "Anfangs dachte ich, dass sich Filmstudenten in elitären Kreisen bewegen", sagt er. "Da ich aber in der eigenen Stadt studierte und hier schon viele Leute kannte, hatte ich nie das Gefühl, mich in einer Blase zu bewegen." Während seines Studiums lernt er seine Frau kennen, vor zweieinhalb Jahren werden sie zum ersten Mal Eltern, Anfang 2019 kommt die zweite Tochter zur Welt.

Wie eine Familie kann man sich auch die Münchner Filmbranche vorstellen, in der sich die meisten kennen und miteinander vernetzt sind. Trachte dreht während des Studiums einige aufsehenerregende Kurzfilme, sein für das Kleine Fernsehspiel vom ZDF entstandener Thriller "Davon willst du nichts wissen" läuft 2011 beim Filmfest München. Produziert wird der Film von der Münchner Firma Claussen und Putz, mit der er in den Folgejahren noch öfter zusammenarbeiten wird: Nach seinem 2015 bei einer anderen Firma entstandenen Kinodebüt "Abschussfahrt" vertraut ihm Jakob Claussen 2016 den dritten Teil der erfolgreichen Jugendfilmreihe "Die Vampirschwestern" an. "Da Tim davor ganz andere Sachen gemacht hat, wäre man bei diesem Film nicht unbedingt auf seinen Namen gekommen", sagt der Produzent, "wir wollten aber gerne wieder mit ihm arbeiten." Trachte ist ein vielseitiger Regisseur, der schon in vielen Genres gearbeitet hat. Vor ein paar Wochen hat er sein nächstes Projekt abgedreht, wieder mit der Firma von Claussen und Putz: Für die sechsteilige Thriller-Serie "Biohackers" inszenierte er drei Folgen, zu sehen sein wird sie nächstes Jahr bei Netflix.

In der Leopoldstraße hat es mittlerweile zu regnen begonnen, also wechselt man ins Innere des Restaurants. Noch ein kurzes Getränk, dann muss Trachte nach Hause, zur Familie in Oberhaching. Davor sagt er noch: "Meine größte Angst ist, dass der Film das Publikum kaltlässt." Angesichts der vielen Zuneigungsbekundungen, die ihm aktuell entgegenschwappen, muss er sich derzeit keine Sorgen machen.

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