Wohnen in: Istanbul:Balkon am Bosporus

Istanbul ist extrem gewachsen, Wohnungen sind knapp. Wer einen Ausblick auf das Wasser haben will, muss besonders viel bezahlen. Auch aus anderen Gründen ist es wichtig, wo man wohnt.

Von Christiane Schlötzer

Wer wissen will, wie groß die Wohnungsnot in Istanbul einst war, in den Sechzigerjahren zum Beispiel, noch vor der großen Zuwanderungswelle aus dem Osten des Landes, der muss sich nur alte türkische Spielfilme anschauen. "Acı Hayat", Hartes Leben, gedreht 1962 in Schwarz-Weiß, ist so ein Film, mit der großartigen Türkan Şoray in der Hauptrolle, die in ihrer Heimat bis heute so verehrt wird wie Sophia Loren in Italien. Şoray spielt Nermin, eine junge Türkin aus einfachen Verhältnissen. In einem Friseursalon feilt Nermin reichen Damen die Nägel. Die Damen plaudern dabei - Trockenhaube über den Lockenwicklern - lässig über ihre neuesten Erwerbungen: teure Villen am Bosporus, für Millionen Türkische Lira. Nermin hört es und seufzt. Sie möchte ihren Freund Mehmet heiraten, der schuftet auf einer Werft. Vor der Hochzeit aber müssen die beiden eine Wohnung finden, und das ist verdammt schwer. Darum dreht sich der ganze Film.

Der Traum der jungen Leute ist ein "Blok Apartman", eine moderne Wohnung in einem der Wohntürme, die damals gerade überall entstehen, um das alte Istanbul herum, mit seinen engen, klassischen Holzhäusern und den bürgerlichen Vierteln mit den eleganten Jahrhundertwendebauten. Zwischen den neuen Wohnblocks gibt es oft nicht einmal Straßen, sie stehen buchstäblich auf der grünen Wiese oder im Schlamm. Der Regisseur musste für seinen Spielfilm keine künstlichen Welten errichten, er nahm die Stadt, wie sie war.

Offiziell leben gut 15 Millionen Menschen in der Metropole

Das erträumte Apartman können sich Nermin und Mehmet nicht leisten: Nermin rechnet die Kosten durch, plus Strom und Gas. So besichtigen sie dann auch die heruntergekommenen Quartiere, wo sich mehrere Parteien zur Untermiete wenige Zimmer teilen. Dort ist es so voll und eng wie bei Nermin und Mehmet zu Hause, wo viele Geschwister um einen Tisch sitzen und die Mutter im Kochtopf rührt.

Wohnen in: Istanbul: Peking.

Peking.

Istanbul hatte 1960 nach offiziellen Angaben 1 466 530 Einwohner. 1970 waren es schon 2 132 400. Heute sind es gut 15 Millionen. Die Zahl sagt aber nicht, wie viele Menschen tatsächlich in der Megastadt leben. Denn viele Türken bleiben ihr Leben lang in jenen Orten registriert, wo sie geboren wurden, auch wenn sie in Istanbul, zwischen Schwarzem Meer und Marmarameer leben und arbeiten.

Die Metropole ist in alle Himmelsrichtungen gewachsen, den Bosporus und die berühmte Kuppel der Hagia Sophia oder die Minarette der Blauen Moschee sieht nur eine Minderheit der Istanbuler auf dem täglichen Arbeitsweg. Wer gar einen Blick aufs Wasser von der eigenen Wohnung aus haben möchte, der bezahlt dieses Privileg gewöhnlich mit viel Geld. Wohnungen mit Sicht auf den Bosporus sind deutlich teurer als solche ohne "manzara" (Aussicht). Dabei muss es sich nicht einmal um ein Yalı, eines der Holzhäuser direkt am Wasser, handeln. Die werden inzwischen nur noch für viele Millionen Dollar verkauft, wenn sie überhaupt auf den Markt kommen. Die Yalıs waren die Sommerhäuser wohlhabender Osmanen. Sie sind grundsätzlich aus Holz. Diese Bauweise galt als sicherer im Fall von Erdbeben als ein Steinhaus, und das Holz sollte auch die Feuchtigkeit aufnehmen, die vom Bosporus aufsteigt. Große Fenster sorgten für gute Belüftung, dekorative Holzschnitzereien für ein elegantes, luxuriöses Erscheinungsbild. Bootshäuser gehörten meist auch zu den Villen am Wasser.

Auf den Inseln ist ein Teil der Vergangenheit konserviert

Wer es sich leisten konnte, hatte zudem ein Holzhaus auf einer der Istanbul vorgelagerten Prinzeninseln. Auf diesen Inseln im Marmarameer ist ein Teil der Vergangenheit bis heute konserviert, auch wenn viele Häuser inzwischen die Eigentümer gewechselt haben. Denn auf den vier größten Inseln waren einst vor allem die religiösen Minderheiten zu Hause, die Griechen, die Armenier und die Juden. Viele von ihnen wurden im 20. Jahrhundert verdrängt oder sie flohen vor Diskriminierung. Noch immer aber gibt es ihre Kirchen, Friedhöfe und Synagogen, und einige Zehntausend Christen und Juden sind in der Türkei geblieben. Auf der größten Prinzeninsel - Büyükada, von den Griechen Prinkipo genannt - ist das griechische Erbe inzwischen Teil der Fremdenverkehrswerbung, aus vielen Fischtavernen schallt griechische Popmusik. Auch Türken pilgern den steilen Berg hinauf zur griechisch-orthodoxen Klosterkirche Agios Giorgios. Sie zünden - wie die Griechen - dünne Kerzen an. Agios Giorgos gilt vor allem als Pilgerziel für Paare mit Kinderwunsch. Von der Terrasse des Restaurants neben dem Kloster hat man einen spektakulären Blick auf die asiatische Küste Istanbuls mit ihren vielen Wolkenkratzern. Hier ist die Stadt in die Höhe geschossen, die Türme beherbergen Büros und Wohnungen. Es ist erst ein paar Jahrzehnte her, da säumten noch Villenviertel die Küste.

Die Türkei ist ein Land mit großen sozialen Unterschieden. Die große Zuwanderung aus der Osttürkei begann in den Achtzigerjahren. Damals entstanden in Istanbul viele "Gecekondular", so nannte man "über Nacht" (gece) gebaute, illegale Häuser. Sie wurden nicht unbedingt in einer Nacht errichtet, aber doch ziemlich schnell, und Gewohnheitsrecht sicherte erst mal ihren Bestand. Inzwischen sind die meisten dieser wilden Siedlungen verschwunden. Auf ihrem Grund sind Wohnblöcke gewachsen.

Wohnen in: Istanbul: Blick auf die Blaue Moschee: Wohnungen am Wasser sind sehr teuer. Ein besonderer Luxus direkt am Ufer sind die alten Holzhäuser.

Blick auf die Blaue Moschee: Wohnungen am Wasser sind sehr teuer. Ein besonderer Luxus direkt am Ufer sind die alten Holzhäuser.

(Foto: Bulent Kilic / AFP)

Die Istanbuler Bauwirtschaft, kräftig von der Regierung von Recep Tayyip Erdoğan gefördert, war in den vergangenen 15 Jahren der Motor des türkischen Aufschwungs. Zuletzt geriet dieser Motor ins Stocken. Die Türkei erlebt eine Wirtschaftskrise. Einige Baufirmen sind bereits pleite. Rohbauten, auf denen kein Arbeiter mehr zu sehen ist, zeugen davon.

Mieten oder kaufen? In der Türkei ist das keine Frage. Eigentum wird klar bevorzugt. Ob schlicht oder edel, jeder kauft lieber, als zu mieten: Weil die Türken wissen, dass Geld auf der Bank ganz schnell ganz wenig wert sein kann. Die Inflation war jahrelang zweistellig, und immer wieder brachen in der Vergangenheit auch Banken zusammen. Bisher funktionierte das türkische Eigenheimmodell meist so: Man kauft sich eine kleine Wohnung, verkauft die nach einer Weile, um eine größere zu erwerben oder eine in einem besseren Viertel. Das ging lange gut, weil die Preise stets stiegen. Nun aber stagniert der Immobilienmarkt, die Zinsen sind hoch.

Dennoch: Istanbul ist immer noch teurer als andere Städte der Türkei. "Ich zahle 3000 Lira (etwa 480 Euro) Miete für eine Wohnung von 50 Quadratmetern", sagt Serhat, ein junger Arzt, der fußläufig zu dem innerstädtischen Krankenhaus wohnen wollte, in dem er arbeitet. Serhat verdient gut. Eine Sekretärin der Klinik, erzählt er, müsse dagegen jeden Morgen und jeden Abend 85 Minuten zwischen Wohnung und Krankenhaus pendeln, "weil sie sich nur eine Wohnung in einem Neubauviertel weit draußen leisten kann". Der Arzt sagt: "Da lebt man doch wie ein Roboter."

Das Wohnzimmer soll so groß wie möglich sein - schließlich muss die ganze Familie Platz haben

Nur 17 Prozent der Istanbuler schaffen es, in 30 Minuten ihren Arbeitsplatz zu erreichen. "30 Minuten ist eine erträgliche Zeit", sagt der Istanbuler Verkehrsplaner Haluk Gerçek. Gute Verkehrsanbindung zählt für viele bei der Wahl eines Stadtviertels, und: Man wohnt lieber unter seinesgleichen, also Konservative eher unter Konservativen, wo Männer freitags in die Moschee gehen. Und säkulare Türken ziehen vielfach nichtreligiöse Nachbarn vor, weil sie sich dann freier und ungezwungener fühlen. Die Lage einer Wohnung bestimmt daher meist auch ihren Preis - mehr als die Zahl der Zimmer.

City Life And Currency Exchanges As Turkish Lira Rebounds

Der Immobilienmarkt in Istanbul stagniert. Grund dafür sind vor allem die hohen Zinsen.

(Foto: Ismail Ferdous / Bloomberg)

Deren Zuschnitt unterscheidet sich gewöhnlich deutlich von deutschen Gewohnheiten. Das Wohnzimmer ist stets groß, es ist Lebens- und Aufenthaltsraum für die ganze Familie. Die Schlafräume dagegen sind eher klein und im hinteren Teil der Wohnung untergebracht. Früher legte man Wert auf besonders geräumige Bäder, das gilt heute als Luxus. Auch Küchen sind eher auf das Nötigste geschrumpft.

Familien mit zwei Kindern - das neue türkische urbane Ideal - finden im Zentrum der Stadt eigentlich nur noch eine Bleibe, wenn beide Eltern arbeiten oder mehrere Generationen beim Wohnungskauf mithelfen. Inzwischen gibt es auch nicht wenige alleinerziehende Türkinnen, früher hätten sie wegen herrschender Vorurteile in einer konservativen Umgebung kaum eine Wohnung gefunden. Aber die Gesellschaft ist im Wandel, die Scheidungsrate ist hoch. Nach offiziellen Zahlen werden in den ersten fünf Ehejahren fast 40 Prozent der Paare wieder geschieden.

In türkischen Fernsehserien wird dagegen heute noch immer gern ein Großfamilienidyll vorgeführt: Kinder, Eltern, Großeltern, alle gemütlich unter einem Dach. Nur entspricht das schon lange nicht mehr dem Alltag vieler Istanbuler, die sich so etwas wegen der Wohnungspreise gar nicht leisten könnten. Dagegen waren die Filme der 60er-Jahre geradezu unverschämt realistisch.

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