EU-Recht:Demokratie braucht Whistleblower - und muss sie schützen

NSA-Enthüller Snowden veröffentlicht Memoiren

Der berühmteste Whistleblower der Gegenwart, live aus dem russischen Exil: Edward Snowden bei der Veröffentlichung seiner Memoiren

(Foto: dpa)

Die EU fordert von ihren Mitgliedern Schutzgesetze für Aufklärer wie Edward Snowden. Das wird schwierig, muss aber sein.

Kolumne von Heribert Prantl

Es gibt Sätze, die wie ewige Wahrheiten klingen, und auf deren Weisheit man sich nur zu gerne verlassen möchte. Einer dieser tröstlichen Sätze stammt von Hölderlin: "Wo aber Gefahr ist", hat er geschrieben, "wächst das Rettende auch." Das Problem ist, dass es oft so ungeheuer lang dauert, bis das Rettende wächst. Jan Hus, ein Whistleblower des 15. Jahrhunderts, hat darauf vergeblich gewartet. Gewiss, das ist lange her. Aber auch Edward Snowden, ein Whistleblower des 21. Jahrhunderts, wartet bisher vergeblich. Hus wurde 1415 auf dem Konzil von Konstanz verbrannt, weil er Missstände in der Kirche angeprangert hat. Snowden hat die globale Überwachung durch US-Geheimdienste aufgedeckt. Er fand 2013 vor der US-Staatsgewalt ausgerechnet in Moskau Zuflucht. Nirgendwo sonst hat man ihm Asyl gewähren wollen, die EU hat sich feige gedrückt.

Daran wird die Richtlinie 2018/0106 nichts ändern, die im April 2019 vom EU-Parlament verabschiedet und soeben von den EU-Justizministern beschlossen worden ist. Diese Richtlinie gewährt zwar nicht den Whistleblowern der ganzen Welt Asyl; sie schreibt Leuten wie Snowden keinen globalen Schutzbrief. Aber sie schafft immerhin das rechtliche Bewusstsein dafür, dass ein Hinweisgeber, der in der EU gemeinschädliche Sauereien anzeigt, kein Verräter ist und Schutz braucht. Die Richtlinie schafft die Möglichkeiten, Repressalien des Arbeitgebers gegen Whistleblower abzuwehren. Sie ermöglicht es, dass Skandale wie die der "Panama-" und der "Paradise-Papers" künftig publiziert werden können, ohne dass die Hinweisgeber fürchten müssen, als Kriminelle behandelt zu werden. Das ist nicht wenig.

Es gibt nicht nur die prominenten Whistleblower, es gibt die vielen kleinen Helden des Alltags - Leute wie den Lkw-Fahrer Miroslaw Strecker, der die Behörden informierte, als er wieder einmal verdorbene Schlachtabfälle zur Lebensmittelfabrik fahren sollte. Es wird künftig nicht mehr so sein können, dass diese Menschen zwar von den Zeitungen gefeiert, aber von ihren Arbeitgebern gefeuert werden, weil sie "Betriebsgeheimnisse" verraten haben. Künftig ist klar: Rechtsverletzungen sind nicht als Betriebsgeheimnisse geschützt. Das steht zwar schon so ähnlich im "Geschäftsgeheimnisgesetz", das im Frühjahr 2019 im Bundestag verabschiedet wurde. Aber in diesem Gesetz werden keine schützenden Folgerungen daraus gezogen. Von einem Bundesverdienstkreuz, das einem Whistleblower verliehen wird, kann er im Fall seiner Kündigung nicht herunterbeißen. Einem Hinweisgeber, der von seinem Arbeitgeber schikaniert wird, hilft kein Orden; es hilft ihm ein starker Kündigungsschutz. Er braucht ein Recht, das ihm recht und finanzielle Sicherheit gibt. Die EU-Richtlinie, die binnen zwei Jahren in nationales Recht überführt werden muss, ist Grundlage für einen guten Whistleblower-Schutz.

Andererseits: Es gibt auch Pseudo-Whistleblower, Leute, die sich nur als solche gerieren, es aber nicht sind und auf Loyalität und Kollegialität pfeifen. Das Recht darf solch bösartige Denunzianten und rachsüchtige Querulanten nicht animieren. Das heißt: Es muss nicht nur Whistleblower schützen, es muss auch die Leute zügeln, die die Whistleblowerei missbrauchen. Das Recht muss also auch Sanktionen gegen Leute vorsehen, die bewusst falschen Verdacht verbreiten und in Schädigungsabsicht Falschanzeigen erstatten. Der Schutz vor diesen Sackpfeifen ist nun, neben der Konkretisierung des Schutzes der wirklichen Whistleblower, Aufgabe des nationalen Gesetzgebers. Die EU-Richtlinie verlangt allerdings nicht, dass der Whistleblower ausschließlich aus edlen, uneigennützigen Motiven handelt. Es reicht, dass seine Anzeige "geeignet" ist, das öffentliche Interesse zu schützen. Mischmotivationen sind also denkbar.

Auch Staatsangestellte brauchen rechtlichen Schutz, wenn sie Korruption und Betrug aufdecken

Die Richtlinie schützt die Personen, die gemeinwohlschädliche Verstöße gegen das EU-Recht anprangern; da geht es um Geldwäsche, um Verstöße bei der Unternehmensbesteuerung, um Verstöße beim Datenschutz, beim Umweltschutz, bei der Lebensmittelsicherheit. Der nationale Gesetzgeber wird die Umsetzung der EU-Richtlinie zum Anlass nehmen müssen, auch Hinweise auf sonstige Rechtsverstöße gefahrlos zu ermöglichen. Die nationalen Gesetze werden so klar wie möglich sagen müssen, wohin innerhalb und außerhalb eines Betriebes Sauereien gemeldet werden können. Die Richtlinie sieht zwar vor, dass Unternehmen mit mehr als fünfzig Mitarbeitern eine Meldestelle einrichten müssen; die Whistleblower müssen sich aber nicht unbedingt an diese wenden, sie dürfen stattdessen auch die Behörden informieren - und in gravierenden Fällen sofort die Öffentlichkeit.

Es wäre seltsam, wenn nur die Whistleblower in der Privatwirtschaft geschützt würden. Es darf hier keine Privilegien für Staatsbetriebe geben. Auch die Beamten und Angestellten, die beim Staat arbeiten, brauchen rechtlichen Schutz, wenn sie Amtsmissbrauch, Korruption und Betrug aufdecken. Das alles klug zu regeln gehört nun zur Aufgabe des nationalen Gesetzgebers. Aber immerhin: Ein Anfang ist gemacht, auf europäischer Ebene.

Es gibt gute Paten für das deutsche Whistleblower-Schutzgesetz. Leute wie Margrit Herbst. Sie war Amtstierärztin für Fleischhygiene, die nicht einfach zuschauen wollte, wie in ihrem Betrieb Tierkörper trotz BSE-Verdachts zur Weiterverarbeitung freigegeben wurden. Sie wurde, das ist jetzt 25 Jahre her, von ihrem Arbeitgeber entlassen. Rehabilitiert ist sie bis heute nicht. Eine Entschädigung für die beschäftigungslose Zeit von der Kündigung bis zum Pensionseintrittsalter hat sie nicht erhalten. Die Richter, die seinerzeit ihren Fall verhandelt haben, raunten von "Treuepflichten" gegenüber dem Arbeitgeber. Ein solches Geraune darf es künftig nicht mehr geben.

Der David des Alten Testaments hatte eine Schleuder, um gegen den Riesen Goliath anzutreten. Whistleblower in der EU haben künftig ein Schutzgesetz. Sie sind nicht mehr wie früher "Ketzer", auch nicht mehr "Verräter". Sie sind Menschen mit Zivilcourage. Ohne diese Zivilcourage gibt es keine gute Demokratie. Die EU-Richtlinie und die nationalen Whistleblower-Schutzgesetze, die es jetzt vorzubereiten gilt, sind Anti-Duckmäusergesetze. Sie helfen beim aufrechten Gang.

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Kolumne von Heribert Prantl

Heribert Prantl ist seit 1. März 2019 Kolumnist und ständiger Autor der Süddeutschen Zeitung. Zuvor leitete er das Ressort Meinung sowie die Innenpolitik und war Mitglied der Chefredaktion. Alle seine Kolumnen finden Sie hier.

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