Altersmedizin:Ehrenrettung des Flaneurs

Regenwetter im Weinberg

Wer langsamer geht, sieht mehr

(Foto: dpa)

Ärzte identifizieren immer mehr Anzeichen für vorzeitiges Altern. So könnte ein langsames Schritttempo mit 45 Jahren ein Indiz für drohende Vergreisung sein. Doch hier irrt die Medizin.

Von Werner Bartens

Ein drohender Verlust ist anzuzeigen. Es geht um die soziale Figur des Flaneurs, also desjenigen, der trotz Beschleunigung und digitalem Wandel noch in der Lage ist, innezuhalten, zu schauen und zu staunen. Der das Schlendern und Sich-Treiben-Lassen als Lebens- und Lustprinzip verinnerlicht hat und das Unterwegssein zu Fuß nicht nur als Mittel der Fortbewegung, sondern auch als zarten Zugang zur Welterkundung versteht. Wer langsamer geht, sieht schließlich mehr.

Mit dem reduktionistischen Blick der Medizin werden solche Dimensionen jedoch nur unzureichend erfasst. Gerade haben Neurowissenschaftler und Psychologen im Fachmagazin JAMA verkündet, dass ein langsamerer Gang bereits bei 45-Jährigen ein Zeichen für beschleunigtes Altern sei. So sei nicht nur der Körper der Langsamen hinfälliger, sondern auch ihr Gehirn kleiner. Überdies weise es mehr Auffälligkeiten und morphologische Defizite auf, die womöglich den kognitiven Verfall wahrscheinlicher machten.

Da wird mit vielen Konjunktiven jongliert, doch haben Forscher in den vergangenen Jahren immer wieder körperliche Merkmale und eingeschränkte Funktionen als Indikatoren für vorzeitige Alterungsvorgänge identifiziert. Mal galt der schwächere Händedruck in mittleren Jahren als sicheres Zeichen dafür, dass es bald bergab geht - und zwar mit Körper und Geist -, mal war es das vorzeitig eingeschränkte Blickfeld, die trockenere Haut oder der gestörte Schlaf.

War Goethe in Italien zu langsam unterwegs? Immerhin huldigte er dem Augenblick

Isoliert betrachtet mögen diese vagen Marker als Risikofaktoren taugen. Tatsächlich werden hier erprobte Kulturtechniken zu Stigmata des Alterns umgewidmet. Max Goldt schreibt "vom Zauber des seitlich dran Vorbeigehens", was sowohl dem gemessenen Schritt als auch dem absichtlich reduzierten Blickfeld endlich die Würde des Alltags einräumt, die diesen beiläufigen Vorgängen zusteht.

Ähnlich verhält es sich mit dem Händedruck. Man muss sich als 50-Jähriger nicht mehr aufführen, als ob man gleich zum Strongman Contest antreten würde und dem Gegenüber beim Handschlag die Fingerknochen brechen will. Eher zeugt es davon, sein Leben im Griff zu haben, wenn man nicht mehr bei jeder Gelegenheit fest zupackt.

Und das Schritttempo? Es ist nicht überliefert, wie schnell Seume nach Syrakus spazierte, Goethe durch Italien reiste und Fontane die Mark Brandenburg erwanderte. Aber diese großen Schauenden werden gemächlich unterwegs gewesen sein und dem Augenblick gehuldigt haben. Für Mediziner mögen das bedenkliche Zeichen der Frühvergreisung sein. Lebensweltlich spricht es für eine höhere Form der Weisheit, und dass man es nicht mehr nötig hat, sich hetzen zu lassen. Unnötiger Hast lässt sich auch ironisch begegnen, wie es der große Zeichner Tomi Ungerer tat: An seinen hölzernen Spazierstock hatte er eine Fahrradklingel geschraubt.

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