Mauerfall:Das Wunder

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Vor dreißig Jahren erlebte SZ-Fotografin Regina Schmeken den Fall der Berliner Mauer von beiden Seiten. Eine fotografische Dokumentation - und gleichzeitig eine persönliche Erinnerung an die wilde Zeit des Aufbruchs.

Protokoll von Christian Mayer

Am Abend des 9. November 1989 habe ich die Nachrichten im Fernsehen angeschaut. Den Bericht über die Pressekonferenz von Günter Schabowski mit seiner Ankündigung, die ja in diesem Moment noch keiner wirklich begriffen hatte: dass alle DDR-Bürger künftig ins Ausland reisen durften, wie es hieß, eine Regelung, die laut Schabowski "unverzüglich" in Kraft treten sollte. Danach war ich wie elektrisiert. Am nächsten Morgen lief ich ins Büro von Gernot Sittner, damals stellvertretender Chefredakteur der Süddeutschen Zeitung, und sagte nur: "Ich denke, ich fahre nach Berlin." Es war ein allgemeiner Aufruhr in der Redaktion in der Sendlinger Straße; einige Reporter waren bereits unterwegs nach Berlin. Sittner nickte sofort: "Fahren Sie!"

Ich hatte Glück und erwischte einen der letzten verfügbaren Flüge von München nach Berlin-Tegel. Auf den Straßen ging es wegen des Ansturms total chaotisch zu, es dauerte eine halbe Ewigkeit, bis ich mit dem Taxi zum Grenzübergang an der Heinrich-Heine-Straße in Kreuzberg gelangte - von hier aus wollte ich zu meinem Hotel in der Friedrichstraße. Die Sekretärin hatte mir dort ein Zimmer reserviert, weil sie wohl dachte: Im Osten spielt die Musik. Was sich als Irrtum erweisen sollte - alles strebte ja nach Westen.

Das noch geschlossene Brandenburger Tor in der Nacht des 10. November von der Ostseite gesehen - im Westen illuminieren die Scheinwerfer den Himmel. (Foto: Regina Schmeken)

Am späten Nachmittag ließ mich der Taxifahrer an der Grenze aussteigen, er durfte leider noch nicht in den Osten fahren. Ein Westberliner um die fünfzig nahm mich in seinem Auto mit: "Kommen Se ma rin, ick will och nur kieken, det finden wir schon." So kam ich zum Hotel, wo ich hastig eincheckte, denn ich hatte nur ein Ziel: das von Volkspolizisten bewachte Brandenburger Tor. Interessanterweise waren dort auf dem Asphalt die Pfeile schon in beide Richtungen markiert. Noch war das Brandenburger Tor geschlossen, aber die gleißenden Scheinwerfer der Kamerateams aus aller Welt wirkten wie eine Verheißung von Westen - das war das erste Bild, das ich in dieser Nacht vom Fall der Mauer gemacht habe.

Mauerdurchbruch, 12. November 1989: DDR-Soldaten an einem offenen Stück Mauer zwischen dem Reichstag (li.) und dem Brandenburger Tor (re.). (Foto: Regina Schmeken/ Regina Schmeken)

Am 11. November war ich am Brandenburger Tor, Unter den Linden und am Checkpoint Charlie unterwegs. Lange Schlangen bildeten sich dort, alles wollte rüber in den Westen. Passanten hatten damit begonnen, Löcher in das Bollwerk zu hacken, unter dem Beifall der Umstehenden, aber noch gab es den Todesstreifen und die Situation war chaotisch und ungeklärt. Erst in den frühen Morgenstunden des 12. November wurden einige Segmente der Mauer entfernt und der Übergang am Potsdamer Platz eingerichtet. Damals fotografierte ich mit einer Olympus, zu dieser Zeit die kleinste Spiegelreflexkamera der Welt, die auf den Laien wie eine Amateurkamera wirkte. So konnte ich relativ unbemerkt genau auf der Grenze zwischen den diensthabenden Volkspolizisten fotografieren, dort war das Gedränge am größten. Ich wollte unbedingt eine Aufnahme machen von der Mauer im Querschnitt, man konnte sich gar nicht vorstellen, dass dieses schmale Stück Beton fast dreißig Jahre lang eine Nation geteilt hatte.

Beim Fotografieren fiel mir auf, wie jung diese Leute waren, die die Grenzen der DDR bewachen sollten. Das waren teilweise 18- bis 20-Jährige, die auch berührt waren von der Wucht der Ereignisse, aber in ihrer Rolle als Befehlsempfänger feststeckten. Es war eine offene Situation: Die Vopos wussten nicht genau, wie sie sich verhalten sollten. Anfangs waren sie noch sehr misstrauisch, doch mit jeder Begegnung wurden sie lockerer. Sie konnten gegen die Kraft der friedlichen Ereignisse nichts mehr ausrichten, sie waren machtlos geworden. Menschen aus Ost und West steckten ihnen Blumen ans Revers.

Überall strahlende Gesichter: Eine völlig neue Atmosphäre trug die Menschen durch Berlin

Einer von 1000 Aufbrüchen: Ein Mann schlägt mit einem Hammer auf die Berliner Mauer ein. (Foto: Regina Schmeken/Regina Schmeken)

Als ich nach vielen aufregenden Stunden nach Westen ins Büro der SZ in der Nähe des Kurfürstendamms fahren wollte, kam es zu einer besonderen Begegnung: Ein Lada hielt vor mir, kurz hinter dem neuen Übergang am Potsdamer Platz. Ich fragte den Fahrer, ob er mich mitnehmen könne. Er war sehr überrascht und sagte: "Ich warte auf meine Frau und meine Schwägerin, sie wollen dieses Gefühl der Freiheit Schritt für Schritt auskosten und zu Fuß über die Grenze gehen." So habe ich Lutz und Bärbel aus Königs Wusterhausen in Brandenburg kennengelernt, die mir gleich erzählten, dass sie zum Zoo nach Westberlin wollten, wo sie einst als junges Liebespaar noch vor dem Mauerbau spazieren gegangen waren. Eines hatte ich allerdings nicht bedacht: Im Lada sitzend, war ich plötzlich für alle anderen ein Ossi geworden; ich hatte die Seiten und die Perspektive gewechselt. So grüßte uns ein zu Tränen gerührter Westberliner vom Straßenrand und rief mir zu: "Willkommen, willkommen - Ihnen auch ein herzliches Willkommen!" Als dann Fotografen kamen und Bilder von uns im Auto machten, habe ich mich lieber weggeduckt, ich wollte schließlich nicht die Geschichte fälschen.

Vier Tage hielt ich mich damals an der Berliner Mauer auf und erinnere mich besonders an die friedliche Stimmung und die strahlenden Gesichter. Viele kamen auch aus dem Ausland nach Berlin, um dieses Wunder zu erleben, Amerikaner, Briten, Franzosen, Italiener, aus der ganzen Welt. Es war eine bisher nicht gekannte Atmosphäre, die einen durch die Stadt trug, die Menschen waren glücklich. Für mich war dies ein universelles Ereignis, es hatte nichts von Deutschtümelei oder Nationalismus, ich konnte sogar Bilder machen, auf denen Menschen die Europafahne mit sich trugen.

Die Dramaturgie dieser Tage wirkt bis heute nach in den Bildern meiner Erinnerung: Das Ankommen in der Nacht, das Trampen im Berliner Chaos, die Begegnung mit einer unbekannten Welt - ich hatte die DDR eigentlich nur aus dem Fernsehen und den Reisen über die Transitstrecken gekannt. Es war ein wenig wie das Pfingstwunder mitten im November: dass plötzlich Menschen miteinander reden konnten, die zuvor eine scheinbar unüberwindbare Mauer trennte, und dass diese friedlich und fast wie nebenbei gefallen war. Das war ein großes Glück!

Ausgabe von Westprodukten an DDR-Bürger am Breitscheidplatz in Berlin. (Foto: Regina Schmeken)

So gab es dann auch am Breitscheidplatz am 12. November einen ökumenischen Dankesgottesdienst in der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche. Es ging darum, die friedliche Revolution zu feiern, und Tausende wollten dabei sein. Um in dem Getümmel einen besseren Überblick zu haben, kletterte ich auf einen Lkw. Ich wollte von dort die Politiker fotografieren, die an dem Gottesdienst teilgenommen hatten und in der Menge kaum zu sehen waren, wie Bundespräsident Richard von Weizsäcker und der Regierende Bürgermeister von Berlin, Walter Momper. Da entdeckte ich unter mir die Ladefläche des Lkw, von der aus man an die Umstehenden Lebensmittel ausgab, viele Hände streckten sich den Tüten entgegen. Die großen Lebensmittelkonzerne hatten sofort die Chance erkannt, Kunden zu gewinnen; deshalb verteilten sie kostenlos Kaffee, Bananen, Apfelsinen, für DDR-Bewohner wahre Luxusgüter.

Westlimousine vor der DDR-Volkskammer. (Foto: Regina Schmeken)

Eine meiner Fotografien aus den wilden Wochen nach dem Mauerfall nimmt die weitere Entwicklung vorweg: Sie zeigt die DDR-Volkskammer, vor der ein dicker Dienstwagen parkt. Da prallen Welten aufeinander, vorne der Mercedes-Stern, hinten das Gebäude mit Hammer und Sichel. Wenn man das Bild heute betrachtet, lässt sich die Entwicklung bereits erkennen: Die Begeisterung über das Ende der deutschen Teilung kann schnell umschlagen, weil es in dieser Geschichte leider nicht nur Gewinner gibt.

Protokoll: Christian Mayer

© SZ vom 19.10.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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