Frankfurter Buchmesse:Misstrauen dringend erwünscht

A Bosnian Muslim family cries near the coffin of a relative, which was prepared for a mass burial at the Memorial Center in Potocari, near Srebrenica

Saša Stanišić warf Peter Handke vor, dass dieser die Verbrechen gegen die Menschlichkeit in seinen Texten nicht erwähne: "Sie sind aber geschehen." Im Bild: Eine bosnische Familie trauert um einen Verwandten nahe Srebrenica.

(Foto: REUTERS)
  • Saša Stanišić, der Gewinner des deutschen Buchpreises, floh als Vierzehnjähriger nach der Besetzung seiner Heimatstadt Višegrad durch bosnisch-serbische Truppen mit seiner Familie nach Deutschland.
  • Die Verleihung des Deutschen Buchpreises nutzte Stanišić für einen scharfen Protest an Peter Handke, der vergangene Woche den Literaturnobelpreis gewann. Stanišić kritisierte Handke dafür, dass dieser die Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die in Bosnien-Herzegowina begangen wurden, in seinem Werk nicht erwähne.
  • Die Blindheit, die Stanišić Handke vorwirft, entspringt dem Umstand, dass Handke seinem eigenen Erzählen zu wenig misstraute.

Von Lothar Müller

Als die Jury am Montagabend Saša Stanišić den Deutschen Buchpreis zusprach, spielte in ihrer Begründung ein Satz die Schlüsselrolle. Er sei "ein so guter Erzähler, dass er sogar dem Erzählen misstraut". Das charakterisiert den Saša Stanišić, der sich gern selbst ins Wort fällt und in sein Erzählen kleine Dementiwiderhaken einbaut, eine Figur souveräner Lässigkeit.

Es trat dann aber der andere Saša Stanišić auf die Bühne, um den Preis entgegenzunehmen, ein Autor, der es bitter ernst meint mit dem Erzählen. Beide haben das prämierte Buch gemeinsam geschrieben. Beide weigern sich energisch, sich auf die "Herkunft", die es im Titel trägt, festlegen zu lassen, und zugleich halten ihr beide die Treue.

Saša Stanišić ist zu einem deutschen Autor geworden, weil er 1992 als Vierzehnjähriger nach der Besetzung seiner Heimatstadt Višegrad durch bosnisch-serbische Truppen mit seiner Familie floh. Sein Misstrauen gegen das Erzählen erhält dadurch eine historische Signatur. Sie wird sogleich sichtbar, wenn man den Spuren nachgeht, die in "Herkunft" Tito hinterlässt, der Präsident Jugoslawiens auf Lebenszeit. Er ist schon tot, Jugoslawien aber noch nicht zerfallen, als in der Kindheit des Erzählers gesungen wird: "Wir sind Jugoslawen. Das ist unsere Herkunft. Und unsere Zukunft."

Die neuen Herrscher gingen auf Lesereise zum Volk: "Genre: Wutrede mit Appellcharakter"

Mit dem Tod Titos verstummt "die wichtigste Erzählstimme des jugoslawischen Einheitsplots", und sie erweist sich als unersetzbar. "Die neuen Erzähler hießen Milošević, Izetbegović, Tuđman. Sie gingen auf eine lange Lesereise zu ihrem Volk. Genre: Wutrede mit Appellcharakter. Sujet: Das eigene Volk als Opfer. Ehrverletzung, erlittene Ungerechtigkeiten, verlorene Schlachten. Der Andere als Feind. Erzählte Zeit: Etwa achthundert Jahre. Stil: Imperative. Symbole über Symbole. Brachiale Bilder. Dräuende Ahnungen."

Aus dieser Herkunftswelt kommt die Verve, mit der Saša Stanišić im Frankfurter Römer die Preisverleihung für einen scharfen Protest gegen die Vergabe des Literaturnobelpreises an Peter Handke nutzte. Sonst ein lustvoller Entspannungsagent in kleineren und größeren Aufgeregtheiten, hatte er schon in den Tagen zuvor diesen Protest mit großem, bitteren Ernst in ganzen Tweet-Kaskaden formuliert. Und ob die Buchpreis-Jury das nun intendiert hat oder nicht, ihre Preisvergabe wirkt wie ein Kommentar zum Nobelpreis. In jedem Fall setzt sie das Thema auf die Tagesordnung der Frankfurter Buchmesse.

Sie findet dreißig Jahre nach dem Herbst 1989 statt, in dem die bipolare Nachkriegsordnung zerfiel und der große Umbruch in Europa begann, einschließlich der Kriege, die nach dem Verstummen der "Erzählstimme des jugoslawischen Einheitsplots" begannen. Durch einige Regionen dieser Welt ging damals Peter Handke, von ihr berichtete er in Zeitungsartikeln und Büchern wie "Eine winterliche Reise zu den Flüssen Donau, Save, Morawa und Drina" aus dem Jahr 1996.

Lesung GER Berlin 20151118 Lesung mit Sasa Stanisic deutschsprachiger Schriftsteller aus Bosnien

"Ein so guter Erzähler, dass er sogar dem Erzählen misstraut": Saša Stanišić.

(Foto: Gerhard Leber/imago)

Die Blindheit, die ihm nun Saša Stanišić vorwirft, die Blindheit gegenüber der vollen Wirklichkeit seiner Herkunftswelt Bosnien, entsprang dem Umstand, dass Handke, dessen Autorschaft nicht zuletzt aus dem Misstrauen gegen das landläufige Erzählen hervorgegangen war, seinem eigenen Erzählen zu wenig misstraute.

Peter Handke ist in Kriegszeiten geboren, 1942 in Kärnten, als Kind einer slowenischen Familie

Es ist nicht damit zu rechnen, dass Handke auf die Attacken von Saša Stanišić antwortet. Und es zeichnet sich nicht ab, dass Stanišić über die Form des Tweets und der halb improvisierten Rede hinausgeht und einen großen Essay gegen Handke schreibt, der sich so genau mit dessen Texten befasst, wie es der Bosnier Dževad Karahasan nach der Publikation der "Winterlichen Reise" 1996 in seinem Artikel "Bürger Handke, Serbenvolk" tat. Aber es wäre schon viel gewonnen, wenn in diesem Autorenkonflikt und seinem öffentlichen Echoraum nicht einfach nur Stellen gesammelt und als Zeugen der Anklage nach Stockholm geschickt würden.

Peter Handke ist in Kriegszeiten geboren, 1942 in Kärnten, als Kind einer slowenischen Familie. Diese Herkunft ist eng mit seinem Werk verwoben und eine der Quellen für seine Texte über Jugoslawien, bis hin zu seiner Anwesenheit bei der Beerdigung von Slobodan Milošević im Jahre 2006. In einer Passage der "Winterlichen Reise" blickt der Erzähler auf die Zeitungsfotografie "eines in einer der Leichenhallen von Sarajewo wie im leeren Universum alleingelassenen getöteten Kindes" und fragt sich, "wieso denn nicht endlich einer von uns, oder besser noch, einer von dort, einer aus dem Serbenvolk persönlich, den für so etwas Verantwortlichen, d.h. den bosnischen Serbenhäuptling Radovan Karadžić, vor dem Krieg angeblich Verfasser von Kinderreimen!, vom Leben zum Tode bringe, ein anderer Stauffenberg oder Georg Elser".

Das Beklemmende in den Texten Handkes über die Kriege in Jugoslawien ist die Kurzlebigkeit solcher Impulse. Sie zerstieben unter dem Furor, mit dem er gegen die Presse mit ihren "Fakten und Scheinfakten" wütet wie einst Karl Kraus, der ihm doch eigentlich fremd sein müsste, gegen die Kriegsreporter seiner Zeit. Diese sterile Opposition zwischen Journalismus und Literatur, falschem Bericht und wahrer Erzählung wirkt wie eine Sichtblende und beschädigt den Erzähler selbst. Es gab aber viele Sichtblenden in den Neunzigerjahren, nicht nur in Handkes Blick auf Milošević, sondern auch im Blick auf Izetbegović oder Tuđman. Handke war nicht der Einzige, der sich geirrt hat.

Die Treue zu Slowenien, einem Stück Herkunftswelt, die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg, aus dem Jugoslawien hervorging, steht am Beginn von Handkes Schriften über den Krieg. Was er an Slowenien literarisch erprobt hatte, übertrug er auf Serbien. Und überschritt, indem er sich an den Staatsmann Milošević annäherte, eine selbst gesetzte Grenze: "Ich will nicht an Staaten denken. Ich bin immer erlöst, wenn man anstatt von einem Staat von einem Land sprechen kann", sagte er der SZ im Jahr 2010.

Es gibt einen Handke diesseits und jenseits der Staatsgrenzen und Staatsmänner. Der Versuch der Schwedischen Akademie, sie fein säuberlich zu trennen, ist aussichtslos. Sie gehören zusammen und lassen sich doch unterscheiden. Und ein Satz, der sich gegen seine Schriften zu Jugoslawien ins Feld führen lässt, stammt von ihm selbst, aus einem Buch, das von keinen Kitsch-Vorwürfen und keiner Empörung je erreicht werden wird. Es ist der Schlusssatz der Erzählung "Wunschloses Unglück": "Später werde ich über all das Genaueres schreiben". Der Satz war nicht an die Zukunft adressiert. Er stellte rückblickend das bereits Erzählte infrage.

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Fotos für die Literaturbeilage Frankfurt ET 15.10.2019

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