Neuer Trend:Schmökern statt Tanzen

Neuer Trend: Buchclub war gestern, heute wird im Lokal gelesen: Die "Silent Reading Party" in der Zeppelin-Bar in Wolfratshausen.

Buchclub war gestern, heute wird im Lokal gelesen: Die "Silent Reading Party" in der Zeppelin-Bar in Wolfratshausen.

(Foto: Hartmut Pöstges)

Bei der "Silent Reading Party" treffen sich junge Leute in einer Bar zum stillen Lesen

Von Susanne Hauck, Wolfratshausen

Melissa und Viktoria sind zum ersten Mal in der Zeppelin Bar. Die Freundinnen haben von einer Party gehört. Die beiden 14- und 16-jährigen Geretsrieder Realschülerinnen sind aber nicht erschienen, um mit der Clique abzuhängen und einen draufzumachen. Sondern um mal in Ruhe ein Buch zu lesen.

Ein paar Minuten vorher am frühen Montagabend hat sich Anja Hagen gefragt, wie viele wohl auftauchen werden bei ersten "Silent Reading Party" in Wolfratshausen. "Der Trend ist aus Amerika zu uns herübergeschwappt", erklärt die stellvertretende Leiterin der Geretsrieder Stadtbücherei die Veranstaltung, zu der sie überwiegend Jugendliche und jüngere Erwachsene erwartet. "Man liest gemeinsam, aber jeder für sich." Bücherfans treffen sich in einem Café und bringen ihren Lieblingsschmöker mit, weil sie hier mit Gleichgesinnten ungestört ihrer Leidenschaft frönen können. Die Handys werden ausgeschaltet, alle lesen etwa eine Stunde in völliger Stille, dann gibt es eine Pause. In Osnabrück habe das neue Format vor zwei Jahren so eingeschlagen, dass dort alle sechs Wochen eine "Silent Reading Party" stattfinde, berichtet Klinge, die mit der Idee einer gemeinsamen Lesefete ihre Wolfratshauser Kollegin Martina Lechner überzeugen konnte.

Pünktlich um 18 Uhr erscheint die erste Besucherin. Die 14-jährige Gina, ein Stammgast der Geretsrieder Stadtbibliothek, hat über Facebook davon erfahren. "Das ist schon etwas Besonderes, wenn alle so zusammensitzen und lesen", antwortet sie auf die Frage, warum sie gekommen ist. Die Zehntklässlerin, die zwei bis drei Bücher im Monat schafft, hat ihre aktuelle Lektüre mitgebracht: die Seelenjäger-Saga "Tausend Mal schon" von Marah Woolf. "Gemütlich lesen in anderer Atmosphäre", das gefällt auch Astrid Völler. Die 27-jährige findet es schade, dass sie im Alltag viel zu wenig zum Schmökern kommt. "Immer ist alles andere wichtiger, wie die Spülmaschine auszuräumen oder die Wäsche aufzuhängen." Meistens schaffe man es nicht einmal, den im Urlaub angefangenen Roman fertig zu lesen, ergänzt ihre Begleiterin. Die beiden haben sich es sich auf dem bequemen Sofa gemütlich gemacht. Die anderen sitzen an den Tischen der Kneipe. Das schummrige Licht der Deckenlampe reicht gerade so zu lesen. Doch das stört den Vorzeigemann unter dem ansonsten weiblichen Publikum nicht. "Ist doch mal was Neues", sagt der 27-jährige Klaus gut gelaunt, der "endlich mal weiterkommen" will mit seinem Buch. Gelesen werden an diesem Abend Teenagerdramen, Heiteres, Thriller, Bildbände und E-Books.

Martina Lechner hat eine Auswahl an Büchern mitgebracht für den Fall, dass jemand ohne passende Lektüre hereinschneit. "Fantasybücher und Geschichten über Zeitreisen gehen bei den Jugendlichen am besten", sagt die Vize-Leiterin der Wolfratshauser Stadtbücherei. Ansonsten lägen All-Ager-Romane voll im Trend, die von jungen Leuten wie von Erwachsenen gelesen werden. Wie die dramatische Fluchtgeschichte "Davor und danach" der Autorin Nicky Singer. Für Lechner geht beim Leseverhalten die Schere immer mehr auf. "Früher hat jeder ein bisschen gelesen", hat sie die Erfahrung gemacht. "Heute gibt es nur solche, die gern und viel lesen oder eben gar nicht." Während unter den Grundschulkindern noch richtig viele Leseratten dabei seien, komme der große Einbruch bei beiden Geschlechtern mit etwa zwölf Jahren. Lechner führt das nicht nur auf die Konkurrenz des Handys zurück, sondern auch auf die oft ungeliebte Klassenlektüre in den Schulen: "Lesen wird als Zwang empfunden."

Gedrängel herrscht der ersten "Silent Reading Party" noch nicht gerade, die Zahl der Gäste ist mit zehn recht überschaubar im Obergeschoß der Bar. Bis auf das gelegentliche Brummen der Kaffeemaschine und das Umblättern der Seiten ist es mäuschenstill, anfangs ist die Atmosphäre etwas befangen, dann liest jeder zunehmend entspannter in konzentrierter Ruhe. Um 19 Uhr stellt Wirt Sepp Schwarzenbach, der sich neben dem Zapfhahn in ein Buch vertieft hat, die Musik an. Einige machen erste zaghafte Versuche, miteinander ins Gespräch zu kommen, andere holen sich eine Saftschorle, manche können sich kaum losreißen. Eine Viertelstunde später ist die Pause vorbei, alle versinken wieder in ihren Geschichten.

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