Gastland Norwegen und Ludwig Wittgenstein:Am Ende des Fjords

1914 ließ sich Ludwig Wittgenstein eine einsame Hütte bauen. Ein Besuch.

Von Alex Rühle

Der Sognefjord ist der längste und tiefste Fjord Europas. An seinem nordöstlichen Ende liegt das Dörfchen Skjolden. Hinter dem Ende des Fjords kommt dann noch ein See, der Eidsvatnet. Und am Ende dieses Sees liegt Kleinösterreich.

Lille Østerrike, so nannten die Bewohner von Skjolden die Hütte, die der seltsame Wiener hier 1914 hatte errichten lassen, der im Herbst zuvor erstmals aufgetaucht war und die Einheimischen fragte, wo es denn bitte am allerstillsten sei. Sie zeigten ihm ein Hochplateau - er drehte sofort um, weil er Fußspuren entdeckte. Ein anderer Ort schied aus, weil in der Nähe eine Ziegenherde graste. Dann fand er selbst den Felsvorsprung hoch über dem See. Kein Weg. Nur das Rauschen des Wasserfalls. Und um nach Skjolden zu kommen, musste man mit dem Ruderboot den gletscherblauen Eidsvatnet überqueren. Perfekt.

Zehn Monate zuvor, im Oktober 1913, war Ludwig Wittgenstein in Bertrand Russells Büro in Cambridge aufgetaucht, um ihm zu eröffnen, dass er sich nach Norwegen zurückzuziehen wolle, bis er alle Probleme der Logik ein für alle Mal gelöst habe. "Ich sagte ihm, da oben sei es dunkel", schrieb Russell an eine Freundin, "da erwiderte er, er hasse Tageslicht. Ich sagte, es werde sehr einsam sein, aber er meinte, mit intelligenten Menschen zu reden heiße, seine Seele zu verkaufen. Ich sagte, er sei verrückt, er sagte, Gott möge ihn davor schützen, normal zu sein (ich bin mir sicher, sein Gebet wird erhört werden)."

Norwegen

„Ich kann mir nicht vorstellen, dass ich an irgendeinem anderen Ort so arbeiten könnte wie hier.“ Wittgensteins Hütte, seit Juni rekonstruiert.

(Foto: Sjur Haga Bringeland)

Wittgenstein war damals 24, Russells Meisterschüler, er arbeitete an genau den Problemen, die er später im "Tractatus logico-philosophicus" dingfest zu machen hoffte: Was können wir sagen und wissen? Wie können wir die Fallen, die uns die Sprache stellt, umgehen? Um tiefer ins philosophische Unterholz eindringen zu können, ließ er sich hier sein Haus nach eigenen Plänen errichten: sieben mal acht Meter, Blick auf den See und die steil aufragenden Berge, drei kleine Räume, ein Balkon (sehr untypisch für Norwegen), alles aus Holz, auf einem Steinfundament.

Ein pensionierter Lehrer machte es sich zur Aufgabe, am Fjord an Wittgenstein zu erinnern

Fünfmal kam Wittgenstein im Verlauf seines Lebens hierher, 1936/37 sogar für ein knappes Jahr, damals hatte er Notizen dabei, aus denen später die "Philosophischen Untersuchungen" werden sollten. Bei jedem seiner Aufenthalte schwärmte er in Briefen davon, wie gut ihm diese Umgebung tue, ja er ist überzeugt davon, dass er hier mehrfach "neue Denkbewegungen" gefunden habe.

Es gibt natürlich viele Anekdoten darüber, wie eisern Wittgenstein hier seine Einsamkeit und Stille verteidigt hat, einmal soll er den Postboten angeschrien haben, sein Klopfen habe Tage, wenn nicht Monate des Nachdenkens zunichte gemacht. Andererseits hatte Wittgenstein das Haus auch bauen lassen, damit er Freunde empfangen konnte.

Auf der Buchmesse in Frankfurt, genauer gesagt im Pavillon des diesjährigen Gastlandes Norwegen, kann man zwar nichts von diesem Haus sehen, aber da steht immerhin ein Ruderboot, na ja, früher war es mal ein Boot. Die Überreste wurden vor ein paar Jahren aus dem Eidsvatnet-See geborgen und sollten angeblich bei einem Sonnwendfeuer verbrannt werden. Die Künstlerin Marianne Heske hat die Trümmer gerettet und sagt, es könne doch theoretisch sein, dass dies Wittgensteins Boot sei. Weshalb das Ganze in ihren Augen ein Symbol darstellt, nämlich für "Denkbewegungen" und für das "Unterwegssein". Und man fragt sich still und leise, ist das jetzt clever, Kitsch oder doch so etwas wie Kunst?

Gastland Norwegen und Ludwig Wittgenstein: Wittgenstein beim Rudern in Skjolden.

Wittgenstein beim Rudern in Skjolden.

(Foto: Arvid Sjörgen Courtesy Wittgenstein Archive, Cambridge)

Nach Wittgensteins Tod im Jahre 1951 wurde sein Haus zunächst abgebaut und, in hässlich modernisierter Form (Eternit!), im Dorf wieder errichtet. Dann wurden die Überreste in einer Garage eingelagert. Bis Harald Vatne, ein pensionierter Lehrer aus Skjolden, einen Verein gründete, der es sich zur Aufgabe machte, an Wittgensteins Zeit hier am Fjord zu erinnern. Der Verein hat das Haus nun originalgetreu an seinem ursprünglichen Ort, 30 Meter über dem See, wieder aufgebaut. Im Juni wurde es eröffnet. Es soll Studiengruppen und Philosophen für Aufenthalte zur Verfügung gestellt werden.

Der wichtigere norwegische Ort für alle, die an Wittgensteins Werk interessiert sind, liegt allerdings 200 Kilometer weiter südlich, ist völlig unscheinbar, aber dafür für jeden digital erreichbar: In der Stadt Bergen, wo Wittgenstein auf seinen Reisen in die Skjoldener Stille das Schiff wechseln musste, ist im obersten Stock der philosophischen Fakultät das Wittgenstein Arkivet untergebracht, das seit 1990 daran arbeitet, alle Texte des Philosophen online verfügbar zu machen (http://wab.uib.no).

Buchmesse Frankfurt - Aufbau

Marianne Heskes Boot auf der Buchmesse.

(Foto: dpa)

Diese Seite wurde von dem Südtiroler Philosophen Alois Pichler ins Leben gerufen. Man kann darauf die Transkripte aus Wittgensteins Nachlass durchstöbern sowie unter anderem die Cambridger Mitschriften seines Freundes G.E. Moore, dem er 1936 in einem Brief aus Skjolden schrieb: "Ich kann mir nicht vorstellen, dass ich an irgendeinem anderen Ort so arbeiten könnte wie hier. Es sind die Stille und die wunderschöne Umgebung; ich meine, ihr stiller Ernst."

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