Zeitzeuge Abba Naor vor Garchinger Schülern:"Ich komme nicht nur zum Erzählen"

Zeitzeuge Abba Naor vor Garchinger Schülern: Abba Naor ist 91 Jahre alt und sagt über seine Befreiung als 17-Jähriger: "Manchmal denke ich, ich bin heute jünger als damals."

Abba Naor ist 91 Jahre alt und sagt über seine Befreiung als 17-Jähriger: "Manchmal denke ich, ich bin heute jünger als damals."

(Foto: Robert Haas)

Abba Naor berichtet Garchinger Schülern, wie fast seine ganze Familie im KZ ermordet wurde. Und ermahnt sie, aus der Geschichte zu lernen.

Von Julia Fietz, Garching

"Mit 17 Jahren war ich ein alter Mann", sagt Abba Naor nachdenklich. Mit 17 Jahren endete 1945 seine Odyssee, die vier Jahre zuvor im Ghetto im litauischen Kaunas begann und auf dem Dachauer Todesmarsch mit seiner Befreiung ihr Ende fand. "Manchmal denke ich, heute bin ich jünger als damals", sagt der 91-Jährige.

Die Geschichte seines Überlebens im Holocaust erzählte Abba Naor am Donnerstag den Schülern der neunten und zwölften Klassen des Werner-Heisenberg-Gymnasiums in Garching.

Geboren 1928, lebte Abba Naor mit seinen beiden Brüdern und Eltern bis 1941 im litauischen Kaunas. Circa 250 000 Juden lebten dort friedlich mit ihren Nachbarn zusammen, Naors eigene Familie seit 400 Jahren. Am Ende des Zweiten Weltkrieges blieben nur noch 10 000 Juden übrig. Von ursprünglich 60 000 Kindern überlebten gerade mal 350 den Wahnsinn des Holocaust. "Es ist Zufall, dass ich überlebt habe", betont Abba Naor. Seine Brüder hatten dieses Glück nicht.

Der Ältere war unter 26 Jugendlichen, die im Juli 1941 von den Deutschen gleich zu Beginn ihrer Besatzung in Kaunas erschossen wurden. Weil sie zum Einkaufen für ihre Familien losgeschickt worden waren. "Wir haben es nicht glauben können", erzählt Abba Naor. Hoffnung sei das Einzige gewesen, was nicht verboten war, sie klammerten sich daran fest.

Ein letzter Blick auf Mutter und Bruder

Naor hält immer wieder inne während seines Vortrags. Im Saal ist es ganz still, während er schildert, wie sich Nachbarn, mit denen gemeinsam Weihnachten gefeiert wurde, plötzlich gegen sie wendeten, wie im Ghetto in Kaunas der Fingerzeig nach links oder rechts über Leben und Tod entschied, wie ganze Familien ausgelöscht wurden. Wie er im KZ Stutthof zum letzten Mal am 26. Juli 1944 durch einen Maschendrahtzaun seine Mutter und seinen sechsjährigen Bruder gesehen hat. Am selben Tag wurden sie in Auschwitz in der Gaskammer ermordet.

Auf der Leinwand erscheinen Fotos von drei lachenden Kindern, zwei Mädchen und ein Junge. "Jeder hat ein Recht auf Leben, egal welche Hautfarbe oder Religion er hat", betont der 91-Jährige. Auf den Bildern sind drei seiner Urenkel zu sehen. "Sie hätten damals keine Chance gehabt, Kinder hatten kein Recht auf Leben."

Die nächste Station der Odyssee war das Außenlager Utting des KZ Dachau. Schikanierung, kaum zu essen und zwölfstündige Schichten waren hier Alltag. Für das berüchtigte Außenlager Kaufering I meldete Abba Naor sich freiwillig, weil er gehört hatte, dass sein Vater dort sei, von dem er in Stutthof getrennt worden war. Erst drei Monate nach Kriegsende, in einem Lager für "Displaced Persons", fanden sich die beiden wieder, Naor hatte den Gedanken schon längst aufgegeben, dass ein Familienmitglied überlebt haben könnte.

"Welche Erfahrung hat Sie am meisten geprägt während dieser vier Jahre?", fragt einer Schülerin nach dem Vortrag. Die Jugendlichen haben sich vorbereitet, vor fast jedem liegt ein Zettel mit Fragen. "Der Hunger", antwortet Naor. Vergessen könne er nichts, was er erlebt habe. "Meine Mutter und meine Brüder sind immer da", sagt er und betont: "Ich komme nicht nur zum Erzählen, sondern auch, um vor falschen Propheten zu warnen."

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