Oper:Wahn und Drama

Oper: Günter Papendell als Pentheus, umstanden vom Chor.

Günter Papendell als Pentheus, umstanden vom Chor.

(Foto: Monika Rittershaus)

Eine der größten, komplexesten Kompositionen des 20. Jahrhunderts: Hans Werner Henzes "Bassariden" an der Komischen Oper Berlin.

Von Julia Spinola

Das Thema ist zeitlos und könnte aktueller nicht sein: Hier die rigide Zwangsherrschaft des thebanischen Königs Pentheus, dort der verführerische Manipulator Dionysos, der mit gleißender vokaler Süße jene unterdrückten Sehnsüchte des Volkes hervorlockt, die schließlich zur tödlichen Raserei entfesselt werden. Beide, der Ruf nach der starken Hand des Staates und die populistische Versuchung, sind heute wieder präsent. Doch Barrie Kosky, der Regisseur und Hausherr der Komischen Oper Berlin, ist klug genug, sich in seiner Inszenierung platte Aktualisierungen zu versagen.

Denn Hans Werner Henzes monumentaler Einakter "Die Bassariden", zu dem W. H. Auden und Chester Kallman das Libretto schrieben, ist das Werk einer so umfassenden Synthese, wie sie in der Operngeschichte des 20. Jahrhunderts kaum je gewagt wurde. Den bereits in den "Bakchen" von Euripides vielschichtig deutbaren Konflikt zwischen Pentheus und Dionysos, dem Gott des Rausches, erweitert die 1966 uraufgeführte Oper zu einem hochkomplexen Menschheitsdrama. Kosky führt die Geschichte um die Rache des Dionysos, der Theben auf grausame Weise in die Selbstzerstörung treibt, auf ihren historischen Kern zurück: auf die Geburtsstunde des antiken Dramas aus dem religiösen Dionysos-Kult. Der erscheint so eben nicht nur als Gott der Ekstase und des Wahns, sondern auch als Gott des Theaters.

Bis zu 17 000 Menschen der Polis versammelten sich zu den Dionysien am Fuße der Akropolis, um Tragödien, Komödien und Satyrspiele zu verfolgen. In der Komischen Oper bleibt der Zuschauersaal daher hell, das Volk von Theben agiert in schwarzen Kostümen wie ein Spiegelbild des Publikums als Chor auf den Stufen einer breiten Treppe, die den größten Teil der Bühne einnimmt, seitlich ist ein Teil des Orchesters platziert. Die verführerischen Melodien des Dionysos schweben zunächst vom hinteren Rang herab, die Proszeniumslogen werden ebenso bespielt wie eine Passerelle vor dem Orchestergraben.

Koskys Personenführung ist brillant, und er besitzt ein sicheres Gespür für das sich unausweichlich zuspitzende dramatische Tempo dieser Oper.

Was zunächst wie eine etwas bildungshuberisch-spröde Inszenierungsidee klingen könnte, hält einen doch während der zweieinhalb Stunden langen, ohne Pause gespielten Aufführung in Atem. Denn Koskys Personenführung ist brillant, und er besitzt ein sicheres Gespür für das sich unausweichlich zuspitzende dramatische Tempo dieser Oper. Und auch die von Otto Pichler choreografierten, streng ritualisierten Tänze sind hier alles andere als eine dekorative Zutat, sondern treiben diesen Sturz in den Untergang suggestiv voran.

Großartig zeichnet der Bariton Günter Papendell den allmählichen Fassungsverlust des Pentheus nach, von der martialischen Härte, mit der er seinen Tenor panzert, um den Verlockungen der dionysischen Entfesselung zu widerstehen, bis zur auch stimmlichen Selbstauflösung, wenn er, zitternd in den zu großen Kleidern seiner Mutter Agaue vor Dionysos stehend, mit seiner eigenen Lust konfrontiert wird, um schließlich von dieser fortgerissen zu werden. Sean Panikkar ist der guruhaft lächelnde, barfüßig sanft auftretende Fremde, dessen gierig fingernde Hände aber dionysische Mordlust verraten. Auch in seinen gleisnerischen Tenorariosi blitzt bisweilen jäh brutale Urgewalt hervor. Panikkar hat die Partie schon in der jüngsten Produktion der Salzburger Festspiele gesungen, ebenso wie die hochdramatische Mezzosopranistin Tanja Ariane Baumgartner die Wahnsinnspartie der Agaue, die am Ende im dionysischen Rausch ihren eigenen Sohn zerfleischt, und die sopranistisch girrende Vera-Lotte Boecker jene ihrer blond-naiven Schwester Autonoe, einer Mitläuferin des Dionysoskultes.

Gesungen wird die englische Originalfassung inklusive des von Henze nach der Uraufführung gestrichenen satyrspielhaften Intermezzos "Das Urteil der Kalliope", das Pentheus mit seinen sexuellen Sehnsüchten konfrontiert. Zu Recht, denn musikalisch haben diese 15 Minuten ihren präzisen Sinn in Henzes gewaltiger musikdramatischer Verausgabung, die gleichsam Musikdrama, Nummernoper und Symphonie vereint. Als schrille Persiflage von Weill'schem Songidiom und den Niederungen der U-Musik lassen sie das Verdrängte der musikalischen Hochsprache hervorbrechen, wie Dionysos die unterdrückte Sinnlichkeit des Volks von Theben.

Am Pult des Orchesters der Komischen Oper hält Vladimir Jurowski den Spannungsbogen dieser Riesenpartitur elektrisierend aufrecht. Sinnlich blüht die chromatisch-erotisierende Sphäre des Dionysos auf, hart akzentuiert werden die geradtaktigen Repetitionen des Herrschers von Theben. Nach dem Untergang Thebens geht am Ende der Vorstellung das Licht im Saal dann doch noch aus. Dionysos lässt seine tote Mutter Semele auferstehen, um mit ihr in den Olymp aufzusteigen. Der letzte Klang des Orchesters, ein Zwölftonakkord, schillert zwischen überirdischer Erfüllung und Vernichtung: ein raffiniert Süße mit Schärfe versetzendes Klanggebilde, das den Tod bedeutet. Denn mit der chromatischen Totale kommt alle Bewegung zum Stillstand.

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