München:Das ist NPL 2067

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Ein Theater-Projekt führt im Achtzigerjahre-Bus durch Neuperlachs Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Ob mit schöner Ironie oder im vollem Anlauf hinein in den Klischeetopf, es soll um eine Utopie für den Stadtteil gehen

Von Jutta Czeguhn

Gesichtslose Reißbrettstadt, Sozialanstalt, Ghetto, Gangstatown. Menschen wohnen dort, die werden ihr Lebtag nie einen Fuß in die Münchner Innenstadt setzen .... Neuperlach entkommt ihnen nicht, den Klischees. Wohl auch deshalb, weil der Rest von München nur eher selten mal im größten und bevölkerungsreichsten Viertel der Stadt vorbeischaut. Shoppen im Pep zählt da nicht. Für alle, die sich nicht alleine nach Neuperlach trauen, weil sie zu viele "Tatorte" geglotzt haben oder befürchten, wie im legendären Stubenmusi-Sketch von Gerhart Polt ("Die ham ois nei herbaut") durch Betonwüsten zu irren, bietet sich nun die Gelegenheit einer begleiteten Busreise. Das Theater-Ensemble "La Vie" hat einen Dieselwölkchen ausstoßenden Achtzigerjahre-MVV-Bus gechartet, Schauspieler und Fahrer Olaf bringen einen sicher zu den "Brennpunkten" der Trabantenstadt. Und chauffieren durch hundert Jahre Neuperlach. Hundert? Klar, denn sie blicken schon weit voraus ins Jahr 2067. Neuperlach als Utopie.

Ungewöhnliche Stadtrundfahrt: Irgendwie geraten die Zeitebenen durcheinander bei dieser Neuperlach-Kreuzfahrt per Bus. (Foto: Robert Haas)

Treffpunkt für die Premiere der theatralen Studiosus-Tour war am Freitagabend das Kulturzentrum. Nach dem Abriss des Provisoriums auf dem Hanns-Seidel-Platz war es zunächst im dritten Obergeschoss eines Bürohauses an der Albert-Schweitzer-Straße 66 untergekommen, nun hat der Verein "KulturBunt" ein paar Meter weiter an der Albert-Schweitzer-Straße 62 wieder eine feste Adresse. Dort im ersten Stock wird am Premierenabend zunächst die Passagierliste gecheckt, Busfahrscheine gibt's von der Rolle. Wer sie verschusselt und später nicht vorzeigen kann, müsse mit einem Bußgeld von "60 Mark" rechnen, warnen die beiden Reiseleiter Tamara Trichter und Ferdi Spange. Sie outen sich als Angestellte der Neuen Utopia Consulting AG GmbR und KoKG, einer Nachfolgegesellschaft der "Neuen Heimat". Nicht gerade eine vertrauensbildende Maßnahme.

Rapper "Grosses K" erwartet die Teilnehmer am Sudermann-Zentrum unter einer Straßenlaterne. (Foto: Robert Haas)

Irgendwie geraten die Zeitebenen durcheinander bei dieser Neuperlach-Kreuzfahrt per Bus. Auf dem Parkplatz vor dem Einkaufszentrum "Life", wo einst die Zentrale der Neuen Heimat Bayern stand, geht die Digitaluhr eineinhalb Stunden nach. Und das schon immer, heißt es. Ein Omen? Endlich sind alle an Bord, Olaf schmeißt den Motor an. Über Headmikro versuchen sich Tamara Trichter und Ferdi Spange, die im wahren Leben Karina Schiwietz und Philipp Wilhelm heißen, gegen den dröhnenden MVG-Retrosound durchzusetzen: "Drei Familien mussten in einer Wohnung hausen ... Auf 1000 Hektar Ackerland ... Wohnen für alle ... Grundsteinlegung 1967 ... die Planung von 25 000 Wohnungen für bis zu 80 000 Einwohnern." Im Zeitraffer lassen sie Zahlen und Fakten purzeln, das nächtliche Neuperlach gibt draußen vor dem Busfenster routiniert und ziemlich gleichgültig die Kulisse.

Tourguide Ferdinand Spange instruiert die Teilnehmer. (Foto: Robert Haas)

Erste Station, bitte alle aussteigen! Das Sudermann-Zentrum am Gerhart-Hauptmann-Ring ist eines von ursprünglich fünf Subzentren im Quartier. Grelle Reklame von Kik und Edeka, eine Apotheke, sonst ist im Dunkeln nicht viel zu sehen. Ausgestattet mit Leuchtstiften zum Umhängen, folgt die Gruppe den Guides wie ein Bataillon Glühwürmchen. Plötzlich sanfte Gitarrenklänge, im Kegel einer Straßenlaterne kauern zwei Gestalten. "Kommt mal alle rüber, herzlich willkommen in meiner Hood", begrüßt "Grosses K", den sie hier auch den "Bürgermeister von Neuperlach" nennen", die Gäste und rappt, begleitet von einem Gitarristen, geschmeidig los. "Jo ... mein Freundeskreis, der ist Völkerkunde ..., das ist NPL, das ist 83 ..., das geht vom Pep bis zur Quidde, von der Quidde bis zum Pep, jo". Einen hartnäckigen Ohrwurm-Refrain pflanzt einem Grosses K aka Kandala Nzanzala da in den Gehörgang. Der Musiker, geboren und aufgewachsen in Neuperlach, ist Mitbegründer der Künstlervereinigung "NPL 83", der Name ist einer Hommage an den alten Postleitzahlzusatz für Neuperlach: 8000 München 83. Nzanzalas Straßenrap spielt ironisch mit Gangsta- und mit Street-Credibility-Klischees, wenn er singt, dass die harten Jungs von damals heute längst auch Familien zu ernähren haben. Und dass es besser ist fürs Aufziehen eines Business', nicht schon mit zwölf die Schule zu verlassen.

Nach dem Straßenrap geht es zurück in die Zukunft. (Foto: Privat)

Kandala Nzanzala gehört zu einer Reihe von Neuperlach-Experten, die die Theaterleute von La Vie für ihre Performance interviewt haben. Da waren auch noch der Graffiti- und Streetart-Künstler Jan Deichmann ("CAZ"), der Schriftsteller Thomas Irlbeck, Florian Mayer, der ehemalige Leiter des Quidde-Zentrums, oder Architektin Sigrid Bretzel, die in der Stadtplanungsabteilung Perlach im Auftrag der Neuen Heimat tätig war. Ihr Wissen um den Stadtteil wurde in Dokutheater-Szenen eingespeist, die sich unterwegs ereignen: Am Wohnring, wo heute Neuperlachs Wahrzeichen, die "Raumspindel", steht, spielt sich ein Romeo-und-Julia-Dramolett ab, sie Türkin, er Deutscher, keine Chance für die Liebe. Shakespeare auch am Hanns-Seidel-Platz, die Endlos-Tragödie um den Bau des Kulturzentrums wird in einen bitter-empörten Hamlet-Monolog verpackt. "Ideen sterben, schlafen, vielleicht auch träumen ..." Die Intermezzi können dramaturgisch nicht immer überzeugen, nerven zuweilen. Etwa wenn zwei Schauspieler aus dem Dunkel treten und als Sozipäds penetrant über ihr Klientel in den Jugendzentren oder über die Neuperlacher Drogenszene dozieren. Da wird dann die Schwäche des theatralen Konzepts deutlich. Es bleibt ein "Reden über", eine "Scripted Reality", die dem Viertel und seinen Menschen übergestülpt wird. Spannend wird es immer dann, wenn Passanten den seltsamen Tross, der sich wie Zoobesucher durch ihr Territorium schiebt, wahrnehmen, in Kontakt gehen oder auch mal die Regie übernehmen. Nahe am Marx-Zentrum, auch "Burg" genannt, ruft ein Typ mit souveräner Ironie der Gruppe zu: "Heroin bekommen Sie da und dort und auch da hinten!"

Vergangenheit, Gegenwart. Und was ist mit der Zukunft? Zurück im Kulturzentrum, spielt sich nun alles wie in einer schrillen Verkaufsshow vor Scifi-Kulisse ab. Es tummeln sich dort Teletubby-Roboter, denen ständig die Festplatte abschmiert. Alle sind irgendwie durchgeknallt, man lebt in seltsamen Satelliten-Knödeln über den Dächern und kultiviert Prämium-Wein in Vertikallage. Schöne neue Welt? Utopia? Was auch immer, Zeit wird's, Neuperlach neu denken. NPL 2067.

Weitere utopische Stadtteilreisen durch Neuperlach starten am Donnerstag, 24., und Freitag, 25. Oktober, jeweils um 19 Uhr vor dem Kulturzentrum an der Albert-Schweitzer-Straße 62. Die Teilnahme kostet zehn Euro, ermäßigt acht. Anmeldung unter Telefon 63891843 oder per Mail unter veranstaltungen@kulturbunt-neuperlach.de

© SZ vom 21.10.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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