Libanon:Neue Einigkeit

Den Demonstranten geht es nicht um die Frage wer gegen wen, es geht um ein neues Wir. Das ist eine historische Zäsur, denn lange verhielt sich der Bürger seiner Religionsgruppe gegenüber loyaler als dem Staat.

Von Dunja Ramadan

Fluch und Segen liegen in Libanon nah beieinander. Im kleinen Zedernstaat regieren Sunniten, Schiiten, Christen und Drusen - eine im Nahen Osten einmalige gesellschaftliche und politische Pluralität. Und ein Segen mit Blick auf die autokratischen Staatsformen in der Region. Doch das konfessionelle Proporzsystem im Land ist zugleich ein Fluch. Denn alle der offiziell anerkannten 18 Religionsgruppen müssen politisch irgendwie vertreten sein. Das führt zu Klientelpolitik und Vetternwirtschaft. Jede Gruppe will vorankommen, ist mehr damit beschäftigt, die Macht unter sich aufzuteilen, als die Probleme der Nation anzugehen. So dauerte es knapp neun Monate, bis nach der Wahl im Mai 2018 eine neue Regierung der nationalen Einheit stand.

Und die soll nun schnell wieder zurücktreten, wenn es nach dem Willen der Demonstranten geht, die seit Tagen zu Hunderttausenden auf die Straße gehen. Die Wut der Libanesen richtet sich dieses Mal nicht gegen eine bestimmte Partei oder einen bestimmten religiösen Führer - sondern gegen die gesamte Führung des Landes, der sie Korruption und Misswirtschaft vorwerfen. Das Land wirkt geeint. Es geht den Demonstranten nicht um die Frage wer gegen wen, sondern um ein neues Wir. Eine historische Zäsur, denn viel zu lange verhielt sich der einzelne Bürger seiner Religionsgruppe gegenüber loyaler als gegenüber dem Staat.

Doch diesmal kam wohl zu viel zusammen: Libanon steht vor einem wirtschaftlichen Kollaps. Das Land hat eine der höchsten Verschuldungsraten der Welt. Die geplante Steuer auf Kommunikationsdienste wie Whatsapp empfanden die Libanesen nun als weitere Provokation, ihre Wut brodelt allerdings schon seit Jahren. Die Arbeitslosigkeit ist auf mehr als 35 Prozent gestiegen, trotzdem wird alles teurer. Die Sparpolitik unter Regierungschef Saad al-Hariri trifft Mittel- und Unterschicht am härtesten, die Oberschicht wird immer vermögender.

Es gibt also genügend Gründe für die Libanesen, auf die Straße zu gehen. Doch in den vergangenen Jahren verebbten die Proteste schnell wieder. Der Ruf nach einer Revolution verstummte immer dann, wenn man ins zerbombte Syrien blickte - oder auch ins eigene Land, in das sich 1,5 Millionen Syrer flüchteten. Das Leid der Nachbarn zeigte ihnen: So können Revolutionen eben auch enden. Man warnte vor Spaltung, rief zum Zusammenhalt auf und erinnerte an den libanesischen Bürgerkrieg, in dem muslimische und christliche Milizen von 1975 an 15 Jahre lang gegeneinander kämpften, Palästinenser gegen Libanesen, Syrer gegen Israelis. Mehr als 150 000 Menschen wurden bei den Kämpfen getötet. Die Einschusslöcher in Beiruts Wohnhäusern sind bis heute nicht beseitigt worden. Als wären sie eine Warnung: Lieber die Füße still halten, auch wenn die Müllabfuhr wochenlang nicht kommt oder der Strom stundenlang ausfällt.

Doch die Proteste zeigen, dass die Bilder aus der Vergangenheit ihre lähmende Wirkung verloren haben. Zu lange setzte die politische Elite auf den Rückhalt ihrer jeweiligen Gruppe. Zu lange spielten sie Gruppen gegeneinander aus und machten mit Ressentiments Politik. Was sie dabei übersehen haben: Die prekäre Wirtschaftslage betrifft alle, Muslime wie Christen wie Drusen. Die Regierung kündigte zwar Reformpakete an, doch längst geht es ums Prinzip. Die Libanesen wollen diesmal echte Veränderungen sehen.

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