Düsseldorfer Schauspielhaus:Wilde, behütete Welt

Das Dschungelbuch; Düsseldorf

Scharf konturierte Tierfiguren in texanischem Setting (von links): Ron Iyamu, Judith Bohle, Sebastian Tessenow, Takao Baba, Cennet Rüya Voß, Rosa Enskat.

(Foto: Lucie Jansch)

Der Regisseur Robert Wilson inszeniert Rudyard Kiplings "Dschungelbuch" auf Cowboy-Art: wach, effizient, lässig.

Von Martin Krumbholz

Er hat es wieder getan. Robert Wilson, inzwischen 78-jährig, hat einen literarischen Klassiker, das "Dschungelbuch", in einen funkelnden szenischen Comic-Strip verwandelt, für Kinder und Erwachsene. Vor allem aber für das Kind im Erwachsenen, als das der Texaner sich selbst betrachtet. Seine hohe Gestalt, unübersehbar, scheint selbst noch den Nacheinlass im Düsseldorfer Schauspielhaus freundlich zu überwachen: Dieser Mann hat alles im Griff. Auf der Bühne sowieso: das Licht, die ausgefeilte Choreografie, jede einzelne Bewegung. Bob Wilson hat etwas von einem Cowboy mit dem Lasso in der Hand - wach, effizient, lässig.

Wer unwiderruflich erwachsen geworden ist, sollte besser zu Hause bleiben. Der Charme dieses "Dschungelbuchs" liegt sicher nicht darin, eine Moral aus der Geschichte zu filtern, die ohnedies zweifelhaft ist. Der Protagonist Mowgli, ein Menschenkind, das unter die Wölfe gefallen ist, im Sinne des Rudels erzogen wird, das "Gesetz des Dschungels" erlernt, aber aufgrund menschlicher Intelligenz doch überlegen bleibt, ist eine bizarre Erfindung. Rudyard Kipling, 1865 in Bombay geboren, in England aufgewachsen, später nach Amerika gezogen, 1907 jüngster Literaturnobelpreisträger, schildert in einer erstaunlich nüchternen Sprache eine imaginäre Welt voller Rätsel. Wie Tiere und Menschen sich sprachlich verständigen sollen, ist eines davon. Für eine kindliche Fantasie aber stellt sich das Problem nicht. Mowgli ist eine Projektionsfigur, anziehend und aufregend.

Walt Disneys filmische Adaption des Stoffs von 1967 setzt natürlich Maßstäbe. Sie bleibt grandios, jeder Heranwachsende hat sie gesehen. Doch Wilson scheut solche Vergleiche nicht. Seine szenische Ikonografie ist so singulär wie Disneys Zeichenstift. Die vor der Brust erhobenen Hände, die hochtoupierten Frisuren, die abgezirkelten Gänge, die Scherenschnitteffekte, die Spots, die Blackouts - dies alles sind Markenzeichen eines Regisseurs, der in rund 40 Jahren das amerikanische und europäische Theater belebt, bezaubert - und globalisiert hat. "Das Dschungelbuch" ist eine Koproduktion mit dem Théatre de la Ville in Paris. In Düsseldorf hatte Wilson zuvor E. T. A. Hoffmanns "Sandmann" auf die Bühne gebracht. Aber mehr als in der romantischen Novelle mit ihren tiefenpsychologischen Spannungen ist Wilson in der Welt des "Dschungelbuchs" zu Hause. Die scharf konturierten Tierfiguren provozieren seinen Humor stärker als die ambivalenten Doppelgänger Hoffmanns.

Der glamouröse Panther Bagheera, der beschwipste Bär Balou: Alle liebenswert, alle da.

Die Musik stammt diesmal von CocoRosie, das ist das Geschwisterpaar Bianca und Sierra Casady. Mit nur vier oder fünf Instrumenten besetzt, bringt die Kapelle im Graben einzelne Stimmen nach vorn, Violine, Gitarre, Klarinette, sie swingt wunderbar, changierend zwischen Jazz-, Folk- und sanften Rockmelodien, ohne jeden Überwältigungsdrang. Die Spieler auf der Bühne fühlen sich von ihr getragen. Der Tiger Shere Khan mit seinen roten Krallen, der "Bösewicht" im Stück, der von Mowgli schließlich in eine Falle gelockt und erlegt wird (Sebastian Tessenow), der glamouröse, schwarz befrackte Panther Bagheera (André Kaczmarczyk), der gelegentlich beschwipste, unendlich gutmütige Bär Baloo (Georgios Tsivanoglou) - letztlich sind sie alle liebenswert, dazu geschaffen, sich in Kinderherzen zu spielen und zu singen.

Die englischen Songs verzichten auf Sentimentalität, der Witz triumphiert. Kein "Probier's mal mit Gemütlichkeit", sondern ein nüchternes "Back to the basics again" gibt die Stimmung vor, allenfalls heißt die Marschrichtung mal: "Lass die Tränen fließen, Mowgli, es sind nur Tränen!" Und dieses wundersame Menschenkind spielt die junge Cennet Rüya Voß hinreißend. In ein ochsenblutfarbenes Sportdress gehüllt, die Haare hochtoupiert, die Wimpern gespitzt, erzählt sie allein mit Mimik und Gestik von Liebe und Furcht in einer Welt, in der sie, paradox, behütet und ausgesetzt zugleich ist.

Der Text wird ohnedies souverän an den Rand gedrückt. Ab und zu gibt Rosa Enskat als Elefant Hathi ein paar epische Versatzstücke zu Protokoll. Aber darauf kommt es nicht an. Es ist der Charme der emotionalen Anmache, auf den Wilson sich glänzend versteht - diesmal ganz ohne jene marionettenhaften Fixierungen, die seinen Arrangements sonst hin und wieder einen etwas sterilen Zug geben.

Die Bühne, natürlich vom Meister selbst ausgestattet, wechselt ihr Outfit schnell. Und sie verblüfft. Es beginnt einladend mit einem bonbonfarbenen Vorhang, auf den das Wort "Jungle" gemalt ist; wenn der Rat der Tiere tagt, wird man plötzlich mit einer wirren Elektro-Installation à la Nam June Paik konfrontiert, und Mowglis Elternhaus besteht aus einer am Himmel schwebenden Miniaturhütte und einer einsamen Fernsehantenne. Wilsons Bildsprache mutet recht texanisch an, aber man kann davon ausgehen, dass Kinder in aller Welt sie mühelos verstehen.

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