Dachauer Zeitgeschichtsforscher :Der Unruhestifter

Lesezeit: 5 min

Hans-Günter Richardi ist Widerstände gewohnt: "Ich habe immer kämpfen müssen." (Foto: Toni Heigl)

Hans-Günter Richardi hat die dunkle Geschichte der Kreisstadt erforscht. Er legte offen, was viele in dieser Stadt lieber verdrängten. Zum 80. Geburtstag eines Unbequemen.

Von Thomas Radlmaier, Dachau

Als Hans-Günter Richardi noch keine 20 war, wollte er zur See fahren. Er heuerte bei der Marine an, kam zum "3. Schnellbootgeschwader" nach Flensburg und glitt mit dem Schnellschiff "Jaguar" über das Meer. Richardi, der Sohn eines Baumeisters, der 1948 im russischen Kriegsgefangenenlager starb, hatte damals vor, Offizier zu werden. Es war eine "gute Zeit", erzählt er heute, auch wenn dieses Lebenskapitel rasch endete. Richardi war damals schon kurzsichtig. Und ein Nautiker, der den Sturm auf See nicht aufziehen sieht, geht in der Marine unter.

Nach dem kurzen Abenteuer hat er die Schifffahrt hinter sich gelassen und sich umorientiert, er wurde Journalist und fing später an, Sachbücher über Zeitgeschichte schreiben. Doch Stürme haben ihn fortan viele heimgesucht. Heute würde man wahrscheinlich Shitstorms sagen. Richardi wurde zu einem Seemann im Ozean der Geschichte, der versuchte, Kurs zu halten. "Ich habe kämpfen müssen."

Dass Dachau heute weltweit als Lern- und Erinnerungsort gilt, ist auch sein Verdienst

Hans-Günter Richardi, der zu Beginn des Zweiten Weltkriegs in Berlin geboren wurde, hat die dunkle Geschichte Dachaus erforscht, als eigentlich niemand darüber sprechen wollte. Er legte offen, was andere lieber verdrängten, etwa wie sehr die Stadt mit dem Konzentrationslager während der NS-Zeit verflochten war. Und dass die Dachauer eben doch Bescheid wussten über das Leid der Häftlinge und die vielen Toten. Richardi schrieb rund 40 Bücher, darunter den "Dachauer Zeitgeschichtsführer", ein Standardwerk, das die Stadt inzwischen in der dritten Auflage herausgibt.

Dass Dachau heute weltweit als Lern- und Erinnerungsort gilt, ist auch sein Verdienst. An diesem Samstag feiert Hans-Günter Richardi seinen 80. Geburtstag. Er sagt: "Die Geschichte ist unteilbar. Man kann nicht nur die guten Seiten darstellen." Der Grundsatz, der ihn publizistisch immer angetrieben hat.

"In dieser Mörderstadt möchte ich nicht leben" - Richardi hatte Vorbehalte gegen Dachau

An einem Nachmittag sitzt Richardi zuhause am Esstisch in einem Reihenhaus in der Nähe des Dachauer Bahnhofs, seine Frau Christa, 76, an seiner Seite. Auf der Kommode im Wohnzimmer liegen einige seiner Bücher. Richardi blickt hinter einer Brille hervor, die seine Augen groß macht. Er ist krank, verliert das Gefühl aus den Beinen, weshalb er immer wieder aufsteht, während er erzählt, wie es dazu kam, dass er 1969 mit seiner Frau nach Dachau zog.

Anfang der Sechziger folgte er seinem Bruder von Berlin nach Bayern. Bei der Marine wollte er eigentlich Presseoffizier werden. Da er schon immer schreiben wollte, entschied er sich für eine journalistische Laufbahn. Er volontierte 1961 in München beim 8-Uhr-Blatt, dem Vorgänger der Abendzeitung. Später wechselte er über eine Station beim Münchner Merkur zur Süddeutschen Zeitung, wo er bis zu seinem Ruhestand vor 17 Jahren als Redakteur arbeitete und sich vor allem mit Themen aus der Zeitgeschichte beschäftigte. Seine Frau, eine Lehrerin aus Franken, lernte er beim Fasching kennen. Der leidenschaftliche Seefahrer Richardi trug auf dem Ball, na klar, ein Marine-Kostüm. Sie brachte ihn schließlich dazu, nach Dachau zu ziehen. Dort hatte sie eine schöne Wohnung gefunden. Doch es sei alles andere als einfach gewesen, ihren Mann davon zu überzeugen, erzählt Christa Richardi. Der habe sich dagegen gesträubt und gesagt: "In dieser Mörderstadt möchte ich nicht leben." Diesen Satz bezeichnet er heute als "Dummheit". Er habe Dachau damals unrecht getan.

Richardi wollte den ehemaligen Gefangenen eine Stimme geben

Richardi hatte anfangs Vorbehalte gegen seine neue Heimat. Ein Fotograf zeigte ihm in der Redaktion einmal das Buch "Ich war wieder in Dachau" des ehemaligen Häftlings Nico Rost. Der Fotograf war empört, dass nach dem Krieg Flüchtlinge in den alten KZ-Baracken leben mussten. Richardi bemerkte schnell, dass sich Dachau nach dem Krieg niemals mit seiner NS-Vergangenheit auseinandergesetzt habe, wie er sagt. Ein Schlüsselerlebnis, für seinen Entschluss, den blinden Fleck in der Geschichte Dachaus offenzulegen, war eine Veranstaltung, die 1975 im Ludwig-Thoma-Haus über die Bühne ging. Ehemalige KZ-Häftlinge hatten die Dachauer eingeladen, um ins Gespräch zu kommen. Auch Richardi war da. "Diese Begegnung mit den politischen Häftlingen hat mich unglaublich geprägt", erzählt er. Er habe es als himmelhoch schreiende Ungerechtigkeit empfunden, dass niemand in Dachau etwas von diesen Menschen wissen wollte.

Richardi wollte den ehemaligen Gefangenen eine Stimme geben. Er fing an, die Zeitzeugen zu interviewen und die Gespräche auf Tonband aufzunehmen, was in der damaligen deutschen Forschung ungewöhnlich war. Die Wissenschaftler stützten sich damals hauptsächlich auf schriftliche Dokumente. Es sei schwierig gewesen, ehemalige Häftlinge für die Interviews zu gewinnen, sagt er. "Das Misstrauen war groß. Leute wie Georg Scherer hatten aufgegeben. Sie sagten: Uns glaubt eh keiner." Aus den Gesprächen entstand Richardis vielleicht wichtigstes Buch, "Schule der Gewalt. Die Anfänge des Konzentrationslagers Dachau". Darin zeigt er, dass die Nazis zuerst in Dachau das Modell der Konzentrations- und Vernichtungslager testeten.

Richardi war einer der ersten, der kein ehemaliger Häftling war und sich öffentlich dafür einsetzte, dass sich die Stadt und die Einwohner mit den Verbrechen der Nazis in Dachau beschäftigen müssen. "Ich war in Dachau allein. Kein Mensch hat sich für dieses Thema interessiert", sagt er. Andere störten sich daran, dass da einer aus Berlin in der Dachauer Geschichte herumstochert. Richardi erhielt Drohanrufe, seine Frau wurde beschimpft. Einmal hat ihm jemand ein Schild mit den Öffnungszeiten der KZ-Gedenkstätte vor das Haus gestellt. Auch aus der Politik kam keine Unterstützung. Richardi sagt, der damalige Bürgermeister Lorenz Reitmeier sei lange der Meinung gewesen, dass dieses furchtbare Kapitel der Stadt irgendwann in Vergessenheit geraten werde. "Man war bemüht, ein anderes Dachau herauszustellen, das Dachau der Künstlerkolonie."

Die Auseinandersetzung mit der Geschichte ist oft ein Kampf

Die Auseinandersetzung mit der Geschichte ist oft ein Kampf. Es geht auch um Deutungshoheit, besonders in einer ehemaligen KZ-Stadt wie Dachau. Die frühere Leiterin der KZ-Gedenkstätte, Barbara Distel, habe diese Deutungshoheit für sich beansprucht, sagt Richardi. Gegen sie habe er oft kämpfen müssen. Distel habe immer gewollt, "dass man auf die Dachauer einschlägt". Ihm sei das zu pauschal gewesen. "Es gab in Dachau auch Menschen, die Widerstand geleistet haben." Eine Ansicht, die streitbar war. Immer wieder wurden Stimmen laut, die Richardi vorwarfen, er blicke zu unkritisch auf die Dachauer NS-Geschichte.

Richardi hat sich auch einmal bei den ehemaligen Häftlingen unbeliebt gemacht. Mitte der Neunziger hielt er die Eröffnungsrede für eine Ausstellung mit dem Titel "Das Zeugnis der Verfolgten". Diese hatte er zusammen mit dem von ihm gegründeten Verein "Zum Beispiel Dachau" konzipiert. In der Rede mahnte er an, eine Ausstellung an der Gedenkstätte, welche ehemalige Häftlinge mehrere Jahre zuvor gestaltet hatten, zu modernisieren. Dafür bot er auch seine Hilfe an. Allerdings kam das anders an, als sich das Richardi vorgestellt hatte. "Richardi brüskiert Häftlinge" - das war anschließend die Schlagzeile in der Dachauer SZ. Daraufhin hätten ihn Leute auf der Straße angesprochen und zur Rede gestellt, sagt er. "Ich wollte aber nie belehren, ich wollte informieren." Jeder sollte an seiner Forschung teilhaben.

Geschichte widerholt sich

Richardi hat Vergangenheit aufgedeckt, die verschüttet war, nicht nur in Dachau. Nach seinem Ruhestand hat er das Schicksal der 37 Sippen- und 98 Sonderhäftlinge aus 17 verschiedenen europäischen Ländern erforscht, welche die SS bei Kriegsende als Geiseln nahm und nach Niederndorf im Hochpustertal verschleppte. In Folge dessen gründete er das "Zeitgeschichtsarchiv Pragser Wildsee". Inzwischen ist dort eine Gemeinschaft aus Überlebenden und deren Nachkommen entstanden. In seinem bisher letzten Buch hat er seine Familiengeschichte erforscht.

Wenn Richardi in der Zeit zurückreisen könnte an den Punkt, als er in Dachau anfing, die Vergangenheit aufzuarbeiten, er würde sich wieder mit der NS-Zeit beschäftigen, sagt er. "Es war mir ein Bedürfnis. Ich sah darin eine Aufgabe, die man erfüllen musste." Und er fühlt sich auch persönlich angegriffen, wenn die rechtspopulistische AfD eine erinnerungspolitische Wende fordert und der Vorsitzende die zwölf Jahre der Naziherrschaft als "Fliegenschiss" bezeichnet. Richardi meint, man müsste mehr Widerstand gegen die AfD organisieren. Er habe gekämpft, dass sich die Geschichte nicht wiederhole. "Und jetzt wiederholt sie sich aber." Die Justiz lasse wie in der Weimarer Republik zu wünschen übrig. Es sei schlimm, dass Juden in Deutschland wieder auf ihren Koffern sitzen müssten. Richardi findet, die Politiker müssten viel mehr und deutlicher gegen Rechtsextremismus und Antisemitismus Stellung beziehen.

Und was wünscht er sich zum 80. Geburtstag? "Dass meine Arbeit fortgeführt wird und dass es hoffentlich keinen Rückfall in schlimme Zeiten gibt. Dann würde er sich sagen: Es hat sich gelohnt, das alles zu erforschen."

© SZ vom 26.10.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: