Nordirland:"Sollte es eine neue Grenze geben, wäre die Wut gigantisch"

Irland-Nordirland-Grenze

"Brexit means Border" - "Brexit bedeutet Grenze". Ein Schild im nordirischen Newry. (Archivbild)

(Foto: Mariusz Smiejek/dpa)

Der Autor und Anthropologe Darach MacDonald hat den größten Teil seines Lebens an der Grenze zwischen Irland und Nordirland verbracht. Er berichtet von Zorn, Frustration - und einer wachsenden Mehrheit gegen den Brexit.

Interview von Christian Simon

Das Grenzgebiet zwischen der Republik Irland und Nordirland von rauer Schönheit und war in seiner Geschichte immer wieder hart umkämpft. Mit dem Karfreitagsabkommen schienen die Konflikte zwischen katholischen Republikanern und protestantischen Unionisten beinahe befriedet - die Grenze ist heute physisch kaum wahrnehmbar. Allerdings riss das Brexit-Referendum die alten Wunden 2016 wieder auf. Seitdem ist die innerirische Grenze einer der Knackpunkte in den Austrittsverhandlungen zwischen Großbritannien und der Europäischen Union. Auch die Angst vor neuer Gewalt, neuen "Troubles", ist wieder da.

Darach MacDonald hat den größten Teil seines Lebens an der inneririschen Grenze verbracht, auf beiden Seiten. Zurzeit lebt er im nordirischen Derry, wo im April die Journalistin Lyra McKee mutmaßlich von irisch-republikanischen Separatisten getötet wurde. Als Wissenschaftler promovierte MacDonald zum Nationalstolz unionistischer Gruppen, als Autor schreibt er unter anderem in seinem neuesten Buch "Hard Border" über die Geschichte der irischen Teilung. Im Interview spricht er über die Frustration der Menschen an der Grenze, seine Erwartungen für die Unterhaus-Wahl im Dezember - und warum er im Brexit auch eine Chance für eine irische Wiedervereinigung sieht.

SZ: Herr MacDonald, wenn Großbritannien wie geplant am 31. Oktober aus der EU ausgetreten wäre, wäre dieser Freitag vielleicht der erste Tag mit neuen Grenzkontrollen zwischen Irland und Nordirland gewesen. Wie ist die Stimmung an der Grenze?

Darach MacDonald: Ich denke, viele Menschen hier befinden sich seit dem Referendum in einer Art Scheintod. Sie sind aufgebracht, bedrückt und nervös gegenüber den möglichen Ereignissen. Am Anfang, nach dem Referendum, waren die Leute perplex, dass die Fortschritte der vergangenen Jahre einfach so zunichte gemacht werden könnten.

Und dann gibt es natürlich auch viel Wut in den Grenzgebieten, wenn die Politiker in London davon sprechen, wie wichtig ihnen der Zusammenhalt des Vereinigten Königreichs ist. Für viele Nordiren an der Grenze ist der Zusammenhalt mit ihren Nachbarn in der Republik Irland viel wichtiger.

Wie präsent ist das Thema "Brexit" im Alltag der Menschen?

Die Leute leben ihren Alltag natürlich weiter, aber der Gedanke an den Brexit ist hier immer im Hinterkopf. Es gibt viele, die zum Beispiel in Derry leben und auf der anderen Seite der Grenze arbeiten. Wir haben hier auch eine kleine technische Universität, viele Studenten wechseln zwischen den Ländern. Gefühlt hat auch jeder hier eine Großmutter in Donegal (Nachbarcounty von Derry und Teil der Republik Irland, Anm. d. Red.). Es gibt also einfach viele, die die Grenze regelmäßig passieren. Und die sind besorgt.

Ist es eine Erleichterung, dass der EU-Austritt der Briten jetzt doch noch einmal verschoben wurde? Oder überwiegt der Frust, weil die Unsicherheit bestehen bleibt?

Es beschwert sich hier sicher niemand über einen weiteren Aufschub. Die Leute sind glücklich, dass der Brexit doch noch nicht kommt. Noch erleichterter wären die Leute nur, wenn das ganze Ding abgesagt würde. In der 100-jährigen Geschichte der irischen Grenze gibt es keine Regelung, die besser gewesen wäre als die Situation, die wir im Moment haben. Alles, was das aus dem Gleichgewicht bringt wäre ein gigantischer Rückschritt. Und wir sehen ja bereits mehr Aktivität von republikanischen Gruppen.

Ihr Buch "Hard Border" ist eine Mischung aus Wanderführer und Geschichtsstunde. Sie selbst wechseln darin immer wieder von Nordirland in die Republik und erzählen von Menschen, die es genauso machen. Was bedeutet diese Nichtexistenz der Grenze für die Menschen, die dort leben?

Es ist wichtig zu verstehen, dass es immer mindestens zwei Sichtweisen auf diese Grenze gibt. Die Mehrheit der Menschen in den Grenzgebieten ist katholisch und republikanisch eingestellt. Für sie ist die Grenze ein Eindringling, eine unerwünschte Barriere, die man am besten ignoriert und umgeht. Für andere Nordiren, die protestantisch sind und sich als Briten sehen, ist die Grenze ein wichtiges Verfassungskonstrukt, eben eine Grenze zwischen zwei Staaten. Sie fühlen sich Belfast stärker verbunden als den Iren auf der anderen Seite.

Trotz dieser unterschiedlichen Sichtweisen versuchen die meisten Bewohner in der Gegend sehr angestrengt, die Grenze zu ignorieren und sie als ein eher folgenloses Ding zu behandeln. In vielen Aspekten des täglichen Lebens existiert sie einfach nicht.

Wenn die Einstellungen so unterschiedlich sind: Warum hat sich Nordirland dann mit 56 Prozent der Stimmen trotzdem vergleichsweise deutlich für einen Verbleib des Vereinigten Königreichs in der EU ausgesprochen?

In den Gebieten direkt an der Grenze dürfte es sogar noch deutlicher gewesen sein. Wie gesagt, dort leben mehrheitlich Republikaner - und die wollten der EU verbunden bleiben. Wenn man weiter ins Landesinnere fährt, trifft man dann schon auf viele "Leaver". Wahlen in Nordirland folgen ihren eigenen Gesetzen, und viele Unionisten werden schon deshalb für den Brexit gestimmt haben, weil die Republikaner dagegen waren. Trotzdem gibt es auch da natürlich viele, die sich der ökonomischen Abhängigkeiten bewusst sind und in der EU bleiben wollten. Es ist ein Flickwerk, aber ja, eine Mehrheit der Nordiren wollte in der EU bleiben. Inzwischen vermutlich sogar noch mehr - ich habe mit vielen protestantischen Landwirten gesprochen, die 2016 für "Leave" gestimmt haben. Inzwischen sind sie von den wirtschaftlichen Aussichten so schockiert, dass sie beim nächsten Mal vielleicht "Remain" wählen würden.

Wie würden die Menschen vor Ort auf eine harte Grenze reagieren?

Sollte es eine neue Grenze geben, wäre die Wut gigantisch. Es gäbe Massenproteste und zivilen Ungehorsam in allen Regionen entlang der Grenze. Einige würden das sicher auch als willkommenen Anlass sehen, Gewalt und Aufruhr wiederauferstehen zu lassen. Aber für die meisten wird es darum gehen, deutlich zu zeigen, dass sie sich Umständen wie in der Vergangenheit nicht mehr unterwerfen werden.

Welche Erwartungen haben Sie an die vom Unterhaus in London beschlossene Parlamentswahl am 12. Dezember?

In Nordirland wird der Brexit zwar das entscheidende, aber nicht das einzige Thema sein. In vielen Fällen werden die Nordiren in ihren traditionellen Lagern abstimmen, Katholiken wählen die einen, Protestanten die anderen, und so weiter. In Belfast könnten sich die Unionisten der DUP allerdings eine blutige Nase holen: Drei Sitze hat sie dort bei der letzten Wahl nur knapp gewonnen. Und wenn sie die verliert, sinkt auch ihre Bedeutung in London, falls Boris Johnson noch einmal einen Koalitionspartner sucht. Und das könnte dann auch große Auswirkungen auf den Brexit haben.

Wie würden Sie sich denn die Zukunft für die irische Grenzregion wünschen? Das alles so bleibt, wie es ist?

Was wir im Moment haben ist in vielerlei Hinsicht sehr angenehm, ja. Gleichzeitig wäre es natürlich nicht zuletzt wirtschaftlich noch viel einfacher, wenn es einfach überhaupt keine Grenze gäbe.

Also eine irische Wiedervereinigung? Könnte das am Ende ein Effekt des Brexits sein?

Davon bin ich fest überzeugt. Ich glaube, dass das Schicksal dieser Insel die Einheit ist. Allerdings Einheit in einem breiteren Kontext, der auch unsere Unterschiede akzeptiert. Es gab viel Spaltung zwischen Republikanern und Unionisten, aber Grenzen sind nicht dazu gemacht um Menschen zusammenzubringen, im Gegenteil: sie werden errichtet, um Menschen zu trennen. Eines Tages würde ich diese Grenze gerne ganz verschwunden sehen - aber so, dass auch die, die sich heute Unionisten nennen, nicht ausgeschlossen werden.

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