Mobilitätsatlas:So weit ist die Verkehrswende

22.09.2019, Bonn, Nordrhein-Westfalen, Deutschland - Strassenkreuzung mit Fussgaengern, Fahrradfahrern, Autos, Bus und S

Das Fahrrad ist für viele das ideale Fortbewegungsmittel in der Stadt. Wenn es zwischen Autos, Schwerlastverkehr und Bussen nur nicht so gefährlich wäre.

(Foto: imago images/Rupert Oberhäuser)

Städter wollen mehr Radverkehr, Norweger mehr E-Autos, Männer sitzen viel mehr im Pkw als Frauen, Flughäfen bangen um ihre Zukunft. Der Mobilitätsatlas von Heinrich-Böll-Stiftung und Verkehrsclub Deutschland bietet Daten und Fakten zum Verkehr von heute und Ideen für morgen.

Von Christina Kunkel und Thomas Hummel

Es gibt wenige Dinge, die die Menschen derzeit so beschäftigen wie Verkehr. Die Städte versinken im Stau, Hunderttausende pendeln zwischen Wohnort und Arbeitsplatz hin und her. Die Kinder müssen den Weg zur Schule bewältigen, Senioren wollen mobil bleiben. Die Automobilindustrie steht am Anfang eines epochalen Umbruchs weg vom Verbrennungsmotor, Arbeitsplätze sind in Gefahr. Lkws verstopfen die Autobahnen, die Bahn ist vielen zu teuer, die Flüge zu billig. Dazu muss der Verkehrssektor in den kommenden zehn Jahren etwa 40 Prozent an Kohlendioxid-Emissionen einsparen. Wie soll das funktionieren?

Die Grünen-nahe Heinrich-Böll-Stiftung und der ökologische Verkehrsclub Deutschlands (VCD) haben an diesem Dienstag einen Mobilitätsatlas veröffentlicht mit dem Untertitel "Daten und Fakten für die Verkehrswende". Die Initiatoren wollen zum Nachdenken anregen und zum Handeln aufrufen. Denn: "Wir haben die Möglichkeit, individuelle Mobilität so zu gestalten, dass es unserer Lebensqualität und unserem öffentlichen Zusammenleben dient und dem Klima nicht schadet."

Zehn Aspekte aus dem Mobilitätsatlas mit Fakten von heute und Ideen für morgen.

1. Billigere Bahn-Tickets

Wer selten ein Bahnticket kauft, der staunt oft: Wow, ist das teuer! Zumindest bei kurzfristigen Reisen ist ein (sehr klimaschädlicher) Flug oft deutlich billiger als der (klimafreundliche) Zug. Ein Grund dafür ist die hohe Steuerlast auf Zugtickets. Im Vergleich der Staaten der Europäischen Union (EU) liegt Deutschland bei der Mehrwertsteuer auf Platz drei mit 19 Prozent, nur Kroatien und Griechenland verlangen noch mehr. 19 Länder hingegen erheben hier gar keine Mehrwertsteuer.

Die Bundesregierung will die Steuer von Anfang 2020 an im Zuge des Klimapakets auf sieben Prozent senken. Stattdessen soll die Luftverkehrsteuer steigen, um die Flugtickets zu verteuern. Das Ziel: Gerade bei kürzeren Strecken wie München-Berlin sollen die Menschen mehr Zug fahren und weniger fliegen. Die deutsche Luftverkehrswirtschaft schlägt bereits Alarm und befürchtet Wettbewerbsnachteile. Das Unternehmen FlixBus fordert die Bundesregierung auf, die Mehrwertsteuer auch für Busfahrten zu senken.

2. Verkehrswende in der Stadt - Beispiel Wien

Man könnte auch Kopenhagen nehmen oder Zürich. Oder Paris, London, Amsterdam. Zuletzt beschloss der Stadtrat von New York, für 1,7 Milliarden Dollar neue Radwege zu bauen, um die "Auto-Kultur" in der Stadt zu brechen. Die Böll-Stiftung und der VCD sahen sich Österreichs Hauptstadt Wien genauer an. In verschiedenen Ranglisten zum Thema "Lebenswerte Stadt" liegt Wien regelmäßig ganz vorne.

Das Ziel hier: Den Anteil an Autofahrten im Verkehr sukzessive zurückdrängen. Dafür verteuert die Stadt das Parken oder streicht Parkplätze in der Innenstadt gleich ganz. Die Zunahme des Autoverkehrs zwischen 2012 und 2018 liegt nach Ansicht der Autoren des Mobilitätsatlas an vielen Zuzügen am Stadtrand, wo Bus- und Bahnverbindungen nicht ausreichen. Zudem sei das Parken in der Innenstadt wohl noch zu preiswert gewesen. Zudem führte Wien 2012 das 365-Euro-Jahresticket für die öffentlichen Verkehrsmittel (ÖPNV) ein, wodurch mehr Menschen Busse und Bahnen nutzen. Die Zahl der verkauften Jahrestickets in Wien stieg von 303 000 im Jahr 2010 auf 822 000 im Jahr 2018 an.

3. Aufs Rad!

Das für viele ideale Fortbewegungsmittel in der Stadt ist das Fahrrad. Es ist schlank, verursacht keine Abgase und häufig kommt man damit schneller von A nach B als mit dem Auto. Allerdings ist die Infrastruktur vielerorts so marode und ungenügend, dass Radfahren zwischen Autos, Bussen oder Schwerlastverkehr äußerst gefährlich sein kann. Die Zahl der toten und verletzten Radfahrer ist zuletzt wieder gestiegen.

In einem Bürgerbegehren haben sich 2016 mehr als hunderttausend Berliner für eine Verkehrswende hin zum Fahrrad ausgesprochen. Die Politik war von der Menge der Unterschriften so beeindruckt, dass sie alle Forderungen sofort in ein Mobilitätsgesetz übernahm. Davon angespornt folgten weitere Unterschriftenaktionen, etwa in Nordrhein-Westfalen, Frankfurt am Main, Stuttgart oder München. Überall erreichten die Initiatoren das nötige Quorum locker. An einigen Standorten wurde die Fahrrad-Lobby zwar von Richtern gestoppt, doch die Nachricht an die Politik ist klar: Die Menschen wollen eine bessere Radinfrastruktur. Da dies in vielen Fällen nur zu Lasten des Autoverkehrs gehen kann, kann das vor Ort durchaus zu Konflikten führen.

4. Elektro ist besser fürs Klima

In Deutschland ist der Verkehr für fast zwanzig Prozent aller CO₂-Emissionen verantwortlich. Um diesen Anteil deutlich zu reduzieren, sind elektrische Fahrzeuge unerlässlich. Zwar wurden auch Verbrenner in den vergangenen Jahren immer effizienter, diese Fortschritte fressen allerdings immer schwerere, leistungsstärkere Fahrzeuge auf. Doch es geht bei der CO₂-Bilanz nicht nur darum, was aus dem Auspuff kommt. Neben dem direkten CO₂-Ausstoß beeinflussen weitere Faktoren die Klimabilanz eines Autos. Beim E-Auto sind das vor allem die Emissionen, die bei der Produktion des Fahrstroms und der Batterie entstehen. Dennoch gilt: Über ihren gesamten Lebenszyklus betrachtet weisen E-Autos beim durchschnittlichen deutschen Strommix eine bessere Klimabilanz auf als fossil betriebene Autos. Und: Je schneller der Anteil der erneuerbaren Energien wächst, desto mehr steigt der Klimavorteil von E-Autos an. Auch die sehr CO₂-intensive Produktion der Batterien wird sich in den kommenden Jahren verbessern, zudem sind Batterien aus E-Autos nach ihrem Ende im Fahrzeug weiter als stationäre Stromspeicher nutzbar.

5. Schmutzige Rohstoffe?

Noch brauchen die Batterien für Elektroautos Rohstoffe wie Kobalt oder Lithium. Deren Abbau kann negative Umweltfolgen haben und findet teilweise unter menschenunwürdigen Bedingungen statt. Allerdings werden diese Stoffe nicht nur für Autobatterien verwendet, sondern sind wie zum Beispiel Kobalt auch in Diesel- oder Benzinautos zu finden sowie Lithium in Akkus für Smartphones oder E-Bikes. Zudem betont auch der VCD, dass die Umweltschäden durch die Ölproduktion und die Gewinnung von Rohstoffen für alle Fahrzeuge dabei ebenso betrachtet werden müssen. Es geht deshalb nicht nur darum, möglichst wenige dieser Rohstoffe zu verbrauchen (es gibt etwa erste Tests mit Elektrobussen, die mit Batterien ohne Kobalt fahren), sondern auch die Arbeitsbedingungen der Menschen vor Ort zu verbessern.

6. Elektro ist (noch) in der Nische

Trotz aller Vorteile der Elektrofahrzeuge hinkt Deutschland im internationalen Vergleich bei der E-Mobilität noch weit hinterher. Die knapp 70 000 neu zugelassenen E-Autos und Plug-in-Hybride sind nur eine kleine Nische, wenn man dagegen die Zahl von 3,25 Millionen Verbrennern stellt, die 2018 gekauft wurden. Damit liegt der E-Anteil am Gesamtbestand in Deutschland gerade einmal bei 0,3 Prozent. Dazu kommt, dass deutsche Autohersteller bislang nicht vorne dabei sind, wenn es um den Absatz von Batterieautos geht. Von den 20 meistverkauften Elektroautos kommt kein einziges aus deutscher Produktion.

7. Auslaufmodell Verbrenner

Dabei rechnen Böll-Stiftung und VCD in ihrem Mobilitätsatlas vor, wie sich die Nachfrage nach Elektroautos in den kommenden zehn Jahren verändern wird. Wurden 2018 weltweit rund zwei Millionen E-Autos verkauft, könnten es 2030 schon 21 Millionen sein. Das hört sich nach einer großen Zahl an - allerdings relativiert sich das, wenn man bedenkt, dass dies gerade einmal die Hälfte der Fahrzeugzahl wäre, die aktuell allein in Deutschland zugelassen ist. Dazu kommt, dass bereits mehrere Länder ein definitives Enddatum für Verbrenner gesetzt haben. Unter anderem die Niederlande, Indien, Norwegen, Schweden, Finnland und Dänemark. Dort sollen bis spätestens 2030 keine Diesel- und Benzinfahrzeuge mehr zugelassen werden. Auch im weltweit größten Automarkt China sollen perspektivisch keine Verbrenner mehr verkauft werden dürfen. Ein festes Ausstiegsdatum gibt es dort allerdings noch nicht.

8. Problem "Aufladen"

Heiß diskutiert wird in Deutschland zurzeit die Ladeinfrastruktur. Wie viele Ladestationen braucht es, damit sich die E-Mobilität flächendeckend durchsetzt? Schaut man sich an, wie andere Länder mit diesem Thema umgehen, dann fällt auf, dass eine hohe Zahl von Ladestationen nicht zwangsläufig dazu führt, dass auch viele Elektroautos verkauft werden. Die USA haben nur ein Drittel mehr öffentliche Ladepunkte als Deutschland, sind jedoch nach China aktuell der zweitgrößte Markt für E-Fahrzeuge. In Norwegen gab es Ende 2018 bereits 200 000 E-Autos und mittlerweile fährt dort mehr als jedes zweite neuzugelassene Fahrzeug elektrisch - dennoch gibt es dort nur 11 400 Ladepunkte. In Deutschland kommen laut VCD jetzt schon auf etwa 80 000 Batterieautos 41 600 Ladepunkte. Die EU empfiehlt einen Ladepunkt auf zehn E-Autos. Wichtig sind jedoch laut VCD auch die jeweiligen Ladegeschwindigkeiten und der freie Zugang zu den Stromtankstellen.

9. Mann macht mobil

Es ist gewiss ein Klischee, wird aber von der Statistik eindrucksvoll untermauert: Männer streifen gerne in der Welt umher, am liebsten in ihren Autos. Sie legen in Deutschland insgesamt mit allen Verkehrsmitteln durchschnittlich 46 Kilometer am Tag zurück, Frauen nur 33. Der Unterschied wird quasi alleine getragen von der stärkeren Nutzung des eigenen Pkws. Selbst am Steuer sitzen Männer darin auf mehr als doppelt so vielen Kilometern als Frauen (29 zu 14 Kilometer pro Tag), rechnet man die Bei- und Mitfahrer hinzu, holen die Frauen ein wenig auf (35 zu 28 Kilometer pro Tag).

"Insgesamt dürfen Straßen mit viel Autoverkehr daher als männlich dominiert gelten", schreiben die Autoren des Mobilitätsatlas und folgern: "Die autogerechte Stadt ist somit auch nicht gendergerecht." Eine Verkehrs- und Stadtpolitik 'für alle' mache die Verkehrsmittel attraktiver, die vor allem von Frauen, Kindern und älteren Menschen genutzt werden. Also Fuß- und Radwege ebenso wie öffentliche Verkehrsmittel. Öffentlicher Raum, Straßen und Plätze müssten so gestaltet werden, "dass sich dort nicht nur 'die Starken' wohlfühlen".

10. Kleine Flughäfen unter Druck

Die Passagierzahlen steigen und steigen. Trotz der Klimadebatte feierte der deutsche Flughafenverband ADV in der ersten Jahreshälfte 2019 einen neuen Flugreisen-Rekord: Etwa 142 Millionen Mal bestieg in Deutschland ein Mensch ein Flugzeug, das waren 3,6 Prozent mehr als zwischen Januar und Juli im Jahr zuvor. Dennoch können einige Flughäfen in Deutschland ohne Staatshilfen kaum überleben.

Das Wachstum konzentriert sich stark auf die großen Standorte wie München, Frankfurt am Main oder Berlin. Die vom Branchenverband ADV ausgewiesenen 14 kleinen internationalen Flughäfen haben teils erhebliche Probleme, so machte einigen etwa die Insolvenz des Billiganbieters Germania schwer zu schaffen. Erfurt etwa verzeichnete zwischen Januar und Mai einen Rückgang der Passagierzahlen von 45 Prozent, Dresden von 9,5 Prozent. Ohne staatliche Subventionen würde vielerorts der Bankrott drohen. Nach derzeitigen Leitlinien der EU sind Staatshilfen für Flughäfen allerdings nur noch bis 2024 erlaubt, weshalb die Verbände bereits vor einer Schließungswelle kleinerer Standorte warnen.

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