Hartz IV:"Existenzvernichtende Sanktionen sind wohl bald Geschichte"

Wartebereich in einem Jobcenter in Bielefeld am 12 01 2016 Jobcenter in Bielefeld Copyright epd bi

Ein Mann wartet im Jobcenter: Mit den Sanktionen wird ein Damoklesschwert über dem Hartz-IV-Empfänger aufgehängt.

(Foto: imago/epd)

Das Bundesverfassungsgericht hat entschieden, inwieweit Sanktionen für Hartz-IV-Empfänger rechtmäßig sind. Harald Thomé vom Verein Tacheles erklärt, warum das Urteil wegweisend sein kann.

Interview von Hans von der Hagen

Schlagen Hartz-IV-Bezieher Jobangebote aus oder weigern sich, an Fördermaßnahmen teilzunehmen, drohen ihnen empfindliche Kürzungen beim Hartz-IV-Satz. Nun hat das Bundesverfassungsgericht entschieden, inwieweit solche Kürzungen rechtmäßig sind. Der Erwerbslosenverein Tacheles, den Harald Thomé vertritt, wurde vom Bundesverfassungsgericht zu einem sachverständigen Dritten ernannt und in der Funktion um eine Stellungnahme gebeten. Wir haben ihn vor dem Urteil interviewt.

SZ: Herr Thomé, das Verfassungsgericht entscheidet über Sanktionen, die vom Jobcenter verhängt werden. Was denken Sie: In welche Richtung geht die Entscheidung?

Harald Thomé: Bei Hartz IV ist vom Fordern und Fördern die Rede. Das Fordern, so wie es heute konzipiert ist, dürfte nach dem Urteil des Verfassungsgerichts nicht mehr funktionieren.

Das heißt, Jobcenter dürften künftig keine Sanktionen mehr verhängen, wenn Betroffene nicht das machen, was von ihnen erwartet wird?

Zunächst mal gilt, dass die Mitarbeiter im Jobcenter per Gesetz zu Sanktionen verpflichtet sind: Jeder Hartz-IV-Empfänger, der beispielsweise eine angebotene Arbeit oder eine Weiterbildungsmaßnahme ablehnt, muss sanktioniert werden. Doch diese Rechtslage verstößt mit hoher Wahrscheinlichkeit gegen das Verfassungsrecht. Das Bundesverfassungsgericht wird nicht alle Sanktionen streichen, doch zumindest unmittelbar existenzvernichtende Sanktionen sind wohl bald Geschichte.

Existenzvernichtung ist ein starkes Wort ...

Aber mit den Sanktionen wird ein Damoklesschwert über den Hartz-IV-Empfänger aufgehängt und so deutlich gemacht: Wenn ihr nicht spurt, dann habt ihr ein Problem. Wenn es das Jobcenter will, kann es einen Menschen in seiner Existenz zerstören.

Zerstören - was meinen Sie?

Zerstören heißt: Nichts zu essen zu haben. Zerstören heißt: Wohnungsverlust. Zerstören heißt: Krankenkassenverlust. Dem Menschen wird die Energie zum Leben genommen. Wenn die Leute ihre Wohnungen verlieren, gehen sie unter und kommen oft über Jahre nicht mehr aus dieser Situation heraus.

Warum verstößt das Gesetz gegen die Verfassung?

Weil das Menschenwürdeprinzip gilt und das Verfassungsgericht schon in zwei Urteilen die Regelleistung für unverfügbar erklärt hat. Das heißt, dass das Jobcenter diesen Betrag eigentlich nicht mehr kürzen darf, weil die Regelleistung das Existenzminimum abdecken soll. Ansonsten ist das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit in Frage gestellt. Die Grundsicherung ist ein Grundrecht, das über das Sanktionsrecht verfügbar gemacht wird.

Wer hat den Fall, um den es jetzt geht, dem Verfassungsgericht vorgelegt?

Das Sozialgericht Gotha, weil es der Auffassung war, dass die Sanktionierung verfassungswidrig sein könnte. Konkret geht es um einen Mann, älter als 25 Jahre, der mehrere Arbeitsangebote bekommen hatte, die aber ablehnte. Daraufhin wurde er sanktioniert - ihm wurde jedes Mal die Regelleistung für jeweils drei Monate gekürzt, das erste Mal um 30 Prozent, das zweite Mal um 60 Prozent.

Sie haben das Alter des Mannes betont - warum ist das wichtig?

Weil das Gesetz unterscheidet: Bei unter 25-Jährigen gibt es schon bei der ersten Sanktion keinerlei Regelleistung mehr - lehnt jemand auch nur einen Job ab, werden ihm 100 Prozent der Regelleistung gestrichen. Beim zweiten Mal wird nicht mal mehr die Miete gezahlt. Bei Älteren ist das dreistufig aufgeteilt: In der ersten Stufe werden 30 Prozent der Regelleistung gekürzt, in der zweiten 60 und erst in der dritten gibt es keine Regelleistung, keine Miete und keine Krankenversicherung mehr.

Wann wird sanktioniert? Reicht es, dass jemand zu spät zu einem Termin kommt?

Das wäre ein sogenanntes Meldeversäumnis - in einem solchen Fall gibt es pro Verstoß zehn Prozent weniger. Für alle anderen Fälle, die "Pflichtverletzungen", gibt es die genannten Stufen, diese liegen vor dem Verfassungsgericht.

Ist es denn zulässig, ein Grundrecht einfach so auszuhebeln?

Der Gesetzgeber tut es einfach. Es hat ja auch 15 Jahre so funktioniert. Ein Jobcenter hat natürlich gewisse Interpretationsmöglichkeiten, wie in dem einen oder anderen Fall mit einem Sachverhalt umgegangen wird. Ob dieses Fordern bis zur Existenzvernichtung verfassungskonform ist, das klärt nun das Verfassungsgericht.

Was bringen die Sanktionen am Ende?

Bei der Verhandlung im Januar wurde die Bundesagentur gefragt, ob es Wirkungsforschungen zu den Folgen der Sanktionen und zur vorgeblichen Arbeitsmarktintegration gibt. Die Bundesagentur musste eingestehen, dass es diese Untersuchungen nicht im ausreichenden und gesetzlich vorgeschriebenen Rahmen gibt. Das ist natürlich fatal: Da wird ein Grundrecht eingeschränkt, und es wird nicht einmal überprüft, ob die Einschränkung zu der gewünschten Wirkung führt.

Aber ist das nicht eine sehr wesentliche Frage?

Ich gehe davon aus, dass das Verfassungsgericht genau darauf eingehen wird. Ein Verfassungsrecht kann in der juristischen Argumentation eingeschränkt werden, wenn es einem hohen Ziel dient - in dem Fall also der hypothetischen Integration am Arbeitsmarkt. Genau das konnten die Sanktionsbefürworter nicht belegen.

Ihr Verein Tacheles wurde vom Verfassungsgericht um eine Stellungnahme gebeten. Was haben Sie zur Wirkung der Sanktionen gesagt?

Wir haben die Ergebnisse einer Online-Umfrage vorgestellt, an der 21 000 Menschen teilgenommen haben, darunter auch 3500 Sozialarbeiter und rund 1500 Jobcenter-Mitarbeiter. Fast 90 Prozent der Antwortenden hielten Sanktionen nicht für eine dauerhafte Arbeitsmarktintegration geeignet - darunter übrigens auch viele Jobcenter-Mitarbeiter. Mehr als 60 Prozent der Befragten bestätigten, dass Sanktionen zu Wohnungsverlust geführt haben.

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