Neuseeland :Endlich in Ruhe einkaufen

Neuseeland : Kiri Hannifin, Supermarkt-Filialleiterin in Neuseeland, hat eine "Quiet Hour" eingeführt.

Kiri Hannifin, Supermarkt-Filialleiterin in Neuseeland, hat eine "Quiet Hour" eingeführt.

(Foto: oh)

Eine Supermarktkette stellt für eine Stunde pro Woche die Musik ab und dimmt das Licht. Eine Mitarbeiterin mit einem autistischen Sohn kam auf die Idee - und traf damit einen Nerv.

Von Natascha Holstein

Grelle Lichter strahlen von der Decke, eine Neonröhre flackert. Raschelnde Plastiktüten, Menschen wuseln durcheinander, schieben Wagen hin und her. Im Hintergrund dudelt es aus den Musikboxen, eine Kasse piept. Inmitten dieser Eindrücke steht ein kleiner Junge. Er sieht aus, als hätte er gerade einen Horrorfilm gesehen.

Der Junge spürt eine Reizüberflutung, eine mögliche Folge von Autismus, dargestellt in einem Video der britischen National Autistic Society. Die Kernaussage des Films: Alltägliche Situationen wie Einkaufen können für Menschen mit Autismus eine Herausforderung sein. "Das menschliche Gehirn ist eigentlich dazu ausgelegt, überflüssige Reize zu filtern, und zu versuchen, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren", sagt Fabian Diekmann, Fachreferent des Bundesverbands Autismus Deutschland. Bei einigen Autisten funktioniert das nicht. Alles dringt ungefiltert ins Gehirn vor: die bunten Lichtelemente, die die Lebensmittel in Szene setzen sollen. Die Musik, die den meisten Kunden eher als harmloses Hintergrundgeräusch auffällt, das Piepen der Kasse. Die Sinneskanäle eines Autisten kann das überfordern.

Die größte Supermarktkette Neuseelands, Countdown, testet deshalb seit einem Jahr in zehn Filialen die "Quiet Hour", die "Stille Stunde". Die kam so gut an, dass es von jetzt an in allen 180 Läden einmal in der Woche eine Stunde lang ruhig werden soll. Dazu dimmen die Mitarbeiter das Licht, die Musik schalten sie ganz aus. Sie räumen in dieser Zeit keine Waren ein, schieben keine Einkaufswagen-Kolonnen durch die Gänge, überhaupt sollen sich auf den Fluren nur so viele Angestellte bewegen, wie unbedingt nötig ist.

Kiri Hannifin ist bei Countdown für die Themen Sicherheit und Nachhaltigkeit zuständig. Sie spricht am Telefon von einem "ruhigen, entspannten Erlebnis" für die Kunden. Eine Mitarbeiterin mit einem autistischen Sohn habe die Idee gehabt, und die Supermarktkette hatte daraufhin das Gefühl, als "freundliches und inklusives Unternehmen" etwas ausprobieren zu müssen, erzählt Hannifin. Eine gute Aktion, findet Autismus-Referent Diekmann. Allerdings müssten sich die Stillen Stunden noch entwickeln, er sagt: "Das ist nichts, was man den Supermärkten vorschreiben sollte."

Einige Läden in Großbritannien und Polen haben das Konzept der Stillen Stunde schon eingeführt, in Deutschland ist eine Debatte um den Supermarkt als inklusiven Ort noch nicht angekommen. Im Ladendesign im Einzelhandel geht es um "audiovisuelle Einkaufserlebnisse", Dienstleister, die große Supermarktketten zu ihren Kunden zählen, sind stolz darauf, alle Sinne des Einkaufenden anzusprechen. Bunte Signalfarben und blecherne Klänge aus den Boxen können auf jeden Supermarktbesucher manchmal anstrengend wirken. Das ist allerdings bis ins Detail geplantes Ladendesign. Gemüse steht oft vorne im Eingangsbereich, es wird mit warmem, gelblichem Licht beleuchtet, das die Waren frisch wirken lässt. Verlockend frisch. Werbetafeln in grellen Farben lenken die Blicke auf sich und signalisieren "Angebot": Schnell zuschlagen, solange der Vorrat reicht. Gleichzeitig kündigt eine tiefe Stimme aus dem eigens für den Supermarkt konzipierten Radio die Weißwurst zum Schnäppchenpreis an.

Ein Supermarkt ist ein Gesamtkonzept, alles ist aufeinander abgestimmt. Wolfgang Gruschwitz, Geschäftsführer der Gruschwitz GmbH, die sich als führendes internationales Design- und Realisierungsbüro für Verkaufsräume versteht, sieht wenig Bedarf, die Läden ruhiger zu machen, man müsse eher das Erlebnis steigern. Licht könne sich auf die Stimmung der Kunden natürlich auswirken, blaues, kaltes Licht zum Beispiel aktiviere die Leute, und das verursache Stress. Sie fühlen sich gehetzt. "Das sollte man in bestimmten Bereichen vermeiden, besonders im Kassenbereich." Gerade dort soll der Kunde ja noch mal in die Regale greifen. Dass während der Stillen Stunde auch das Licht heruntergeregelt wird, kritisiert Gruschwitz: "Wenn ich weniger Licht reinbringe oder Licht dimme, sehen die Leute weniger, dann fühlen sie sich unsicher." Gerade ältere Leute, die nicht mehr so gut sehen, seien dann wiederum im Nachteil.

Müssen Einkaufszentren und Supermärkte wirklich ständig an die Sinne der Einkaufenden appellieren?

In sozialen Medien und Blogs äußern Nutzer wiederum ganz andere Kritik: Eine Stunde pro Woche, während der auch noch viele Menschen arbeiten müssten, das sei zu wenig. Hannifin kann diese Kritik nicht verstehen. Mit ihrem Team hat sie sich für die Konzipierung mit Autism New Zealand beraten, dem größten neuseeländischen Verband für Autisten. "Viele unserer Kunden kommen, nachdem sie ihre autistischen Kinder von der Schule abgeholt haben", sagt sie. Daher habe man sich entschieden, am frühen Nachmittag Ruhe einkehren zu lassen. Letztlich richte sich das Angebot aber an alle Kunden, betont Hannifin immer wieder.

In den Testläden habe man nicht nur von Autisten positive Rückmeldungen bekommen, sondern auch von älteren Einkäufern oder Menschen, die an Angststörungen leiden. Für sie sei der Wocheneinkauf bislang ein Stressfall gewesen: Sie hätten den Supermarkt betreten und zu den erstbesten Produkten gegriffen, um den Laden schnell wieder verlassen zu können. Manche gingen auch gar nicht mehr in die Märkte, sondern bestellten nur online. Autismus-Experte Diekmann erinnert sich an einen eigenen schrecklichen Besuch im Supermarkt: Technoschlager dröhnte aus den Boxen. Er sei sofort umgekehrt. Müssen Einkaufszentren und Supermärkte wirklich ständig an die Sinne der Einkaufenden appellieren?

Das sei doch für viele Menschen anstrengend, unabhängig vom Gesundheitszustand, sagt Diekmann. Im besten Fall also ist es beim Supermarkt irgendwann genau so wie an vielen anderen Orten der Inklusion: Am Ende haben alle was davon.

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