Expertenkommission:370 Straßennamen, die einer Klärung bedürfen

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Vor neun Jahren wurde die Meiserstraße in München in Katharina-von-Bora-Straße umbenannt - nach heftigen Debatten. (Foto: Frank Leonhardt/dpa)

Für die Stadt haben Historiker die Benennung fast aller Münchner Straßen geprüft. Bei 330 empfehlen sie eine Erläuterung, bei weiteren 40 sehen sie Diskussionsbedarf.

Von Martin Bernstein

Antisemiten, Rassisten, Nationalsozialisten: Sie sind da, mitten in der Stadt, auf Münchner Straßen. Genauer: auf Münchner Straßenschildern. Etwa 330 Straßen in der Landeshauptstadt sind nach Personen, Orten oder Ereignissen benannt, die einer Erklärung bedürfen. Und bei etwa 40 Straßennamen sieht das Stadtarchiv erhöhten Diskussionsbedarf. Das ist das Ergebnis einer vor vier Jahren durch die SPD-Fraktion angestoßenen ersten Prüfung der Münchner Straßennamen durch das Stadtarchiv. "Sorgfalt vor Schnelligkeit" lautete die Devise der Experten.

Jetzt ist der Stadtrat am Zug - zunächst der Ältestenrat, dem die Liste belasteter Namen in nichtöffentlicher Sitzung vorgelegt wurde. Insgesamt 6177 Münchner Straßennamen wurden von den Wissenschaftlern fachlich evaluiert, davon stammen 723 Benennungen aus der Zeit vor 1900. Unter Federführung des Stadtarchivs wird noch dieses Jahr ein Expertengremium gebildet, zu dem neben zahlreichen Fachleuten auch Vertreter der Stadtratsfraktionen zählen werden.

"Das Gremium wird Empfehlungen zum weiteren Vorgehen erarbeiten", sagt Birgit Unterhuber, Pressesprecherin des Kommunalreferats. Entscheidungen wird dann erst der im Frühjahr neu zu wählende Stadtrat treffen. Es wird also wohl mindestens noch ein Jahr vergehen, bis erläuternde Tafeln für problematische Münchner Straßennamen in Auftrag gegeben werden können - und einige Straßen möglicherweise völlig neue Namenspatrone bekommen.

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Denn auch wenn immer wieder betont wird, dass Umbenennungen nur die Ultima Ratio sein könnten: Es gibt sie, die nach heutigem Wissensstand völlig untragbaren Namenspatrone. Menschen, die durch ihr Reden, Schreiben und Handeln in einem Maß gegen die Werte von Demokratie und Menschenwürde verstoßen haben, dass ihre Ehrung durch ein Straßenschild als Zumutung betrachtet werden muss. Straßennamen also, die weder durch den vom Stadtarchiv erhofften öffentlichen Diskurs noch durch differenzierte Erläuterungen "geheilt" werden können. Die in München nichts mehr zu suchen haben.

Auch wenn dem Ergebnis der Expertenkommission niemand vorgreifen will: Die Hilblestraße in Neuhausen ist ein vorrangiger Kandidat für eine Umbenennung. Stadtarchiv und Bezirksausschuss haben bereits früher erklärt, die Namensänderung sei unumgänglich. Friedrich Hilble war während des NS-Regimes zeitweise Leiter des städtischen Wohlfahrtsamts. Er verweigerte Juden die Sozialhilfe und stufte Bedürftige als "arbeitsscheu" ein - was deren Deportation in Konzentrationslager bedeutete. Die 500 Meter lange Straße hatte ihren Namen nicht etwa während der Nazi-Herrschaft bekommen: 1956 wurde Hilble als geeigneter Straßenpate angesehen. Weil eine Namensänderung seit Jahren auf sich warten lässt, platzte Mitgliedern des Bezirksausschusses Ende Mai der Kragen. Sie strichen "Hilblestraße" durch und brachten ein neues Schild an. Maria-Luiko-Straße soll dort künftig stehen, der Künstlername der Malerin Marie-Luise Kohn, die 1941 von den Nazis verschleppt und ermordet wurde.

Heftig diskutiert wird seit Jahren auch über die Moosacher Treitschkestraße (1960 benannt nach dem antisemitischen wilhelminischen Historiker Heinrich von Treitschke), die Alois-Wunder-Straße in Pasing (1978 benannt nach dem letzten Pasinger Oberbürgermeister, einem Mann mit NS-Vergangenheit) oder die Teuchertstraße in Trudering. Sie war 1936 von den Nationalsozialisten so benannt worden - in Erinnerung an ein 1919 während der Räterepublik ermordetes Freikorps-Mitglied mit Verbindungen zur rechtsextremistisch-antisemitischen Thule-Gesellschaft. Das gleiche gilt für die Hella-von-Westarp- und die Deikestraße. "Nach 1945 sah man keine Veranlassung, die nationalsozialistischen Straßenbenennungen zu korrigieren", so die Stadtverwaltung.

In manchen Fällen reichen Hinweistafeln, in anderen muss der Name verschwinden

Die meisten in der Nazi-Zeit vergebenen Namen wurden unmittelbar nach dem Krieg "rückabgewickelt", hieß es 2016 aus dem Kommunalreferat. "Allerdings fiel auch eine Reihe von problematischen Straßen durch das eher weitmaschige Entnazifizierungsraster." Etwa die Trautmannstraße. Sie ist bis heute dem 1936 gestorbenen Kulturhistoriker Karl Trautmann gewidmet. Ursprünglich aber war sie nach dem Dichter Franz Trautmann benannt gewesen. Dessen jüdische Herkunft genügte den Nazis, um ihn noch 50 Jahre nach seinem Tod auszulöschen.

Einzelne eklatante Fehlbenennungen - die meisten erst aus der Zeit nach 1945 - wurden in den Jahren vor dem Stadtratsbeschluss korrigiert, zuletzt 2015. Paul de Lagarde, ein Kulturphilosoph, der Juden als "Trichinen und Bazillen" bezeichnete, hat als Namenspatron ebenso ausgedient wie der Staatsrechtler und NS-Diplomat Friedrich Berger. Doch was soll mit den vielen anderen belasteten Straßen passieren? Mit dem antisemitischen Kulturschriftsteller als Namenspatron, dem Kolonialoffizier, dem Künstler, der für Nazis malte, baute, musizierte? Was mit einem politischen Dichter wie Ernst Moritz Arndt, der Juden als "fremden Auswurf" beschimpfte und dem eine Straße in der Isarvorstadt gewidmet ist?

In manchen Fällen werden kurze Hinweistafeln genügen, um die Problematik aufzuzeigen. Am Ende aber müsste ein öffentlich zugängliches Verzeichnis aller Straßennamen im Internet stehen - in dem dann die Verdienste, aber auch die dunklen Flecken des jeweiligen Namenspatrons dargestellt werden. Erst dann kann die Diskussion stattfinden, die Experten wie Andreas Heusler vom Stadtarchiv so wichtig ist. Über Straßennamen, die wie im Haidhausener "Franzosenviertel" den Militarismus oder wie in Trudering und Bogenhausen den Kolonialismus verherrlichen. Auch Namen, die im Jahr 2019 nicht mehr vergeben würden, können Spuren der Zeitgeschichte sein, die man nicht in einer groß angelegten erinnerungspolitischen Flurbereinigung ohne Weiteres aus dem Stadtplan tilgen sollte. Unkommentiert stehen lassen kann man sie aber auch nicht.

"Man muss Bewusstsein schaffen", sagt Heusler. Viel Arbeit also für die künftige Expertenkommission und für den Stadtrat, der in jedem Fall das letzte Wort haben wird. Viel Raum aber auch für öffentliche Debatten und bürgerschaftliches Engagement - wie in der Hilblestraße, die wohl bald anders heißen wird.

© SZ vom 09.11.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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