30 Jahre Mauerfall:"Man fühlte sich wie ein Verräter"

30 Jahre Mauerfall: Einst Gegner, heute vereint: Joachim Knorr, Justus Gräbner, Sonja Kretzschmar, Udo Beßer und Rüdiger Wanzke (von links).

Einst Gegner, heute vereint: Joachim Knorr, Justus Gräbner, Sonja Kretzschmar, Udo Beßer und Rüdiger Wanzke (von links).

(Foto: Claus Schunk)

Eine Expertenrunde diskutiert in Neubiberg über die Vereinigung von Bundeswehr und NVA nach der Wende

Von Julia Fietz, Neubiberg

Zwei Armeen, die sich jahrzehntelang feindlich gegenübergestanden waren, sollten plötzlich eins werden: Am 3. Oktober 1990 wurde mit der deutschen Einheit die Nationale Volksarmee (NVA) in die Bundeswehr integriert. Die ehemaligen Soldaten der DDR legten ihre Uniformen ab, schworen einen neuen Eid und mussten doch um ihre Arbeitsplätze bangen, da die Truppenstärke laut den Zwei-plus-vier-Verträgen drastisch reduziert werden sollte. Am Donnerstagabend diskutierten Zeitzeugen und Experten im Casino der Universität der Bundeswehr über die Herausforderungen der Wendezeit. Entscheidend sei gewesen, dass alles friedlich ablief, darin waren sich alle einig.

Moderatorin Sonja Kretzschmar, Professorin für Journalistik, lenkte das Gespräch der vier Männer auf dem Podium zunächst auf den 9. November 1989, den Tag des Mauerfalls. Rüdiger Wenzke etwa, Leitender Wissenschaftlicher Direktor beim Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr, ging nach eigenen Worten damals keineswegs euphorisch, sondern mit einem mulmigen Gefühl ins Bett. Zu Recht, wie er 20 Jahre später erfahren sollte. "Es gab unter den Generälen die Überlegung, die Mauer wieder gewaltsam zu schließen", so der heute 64-Jährige.

Oberst a.D. Udo Beßer, der ebenso lang in der NVA wie später in der Bundeswehr diente, besuchte am gleichen Abend noch ein Konzert im Palast der Republik in Ostberlin. Auf dem Rückweg sahen er und seine Frau Menschenmassen, scherzhaft meinte er: "Siehst du, jetzt wird hier auch schon demonstriert." Was er tags darauf erfuhr, konnte er kaum glauben. Beßer hat ein Buch über die Wendezeit geschrieben: "Vom Soldatsein. Offizier in zwei deutschen Nachkriegsarmeen". Dort beschreibt er die Gefühlslage beim Anlegen der neuen Uniform: "Man fühlte sich wie ein Verräter, ein Kollaborateur".

Generalmajor a.D. Justus Gräbner arbeitete damals als Referent im Verteidigungsministerium in Bonn und stieg am 3. Oktober in eine proppenvolle Regierungsmaschine der Bundeswehr. Alle Mitreisenden wussten, dass Unmengen an militärischem Material gesichert werden mussten, die NVA war eine hochgerüstete, gefechtsbereite Armee. Aber: "Technik und Ausrüstung waren vorzüglich, der Zustand der Kasernen und Liegenschaften dafür zum Teil katastrophal", so Gräbner.

Der Befehlshaber des neu gebildeten Bundeswehrkommandos Ost, Generalleutnant Jörg Schönbohm, stand vor einer Mammutaufgabe. Eine neue Führungsstruktur der Armee im Osten habe aufgestellt werden müssen neben der Materialsicherung. "Es war letzten Endes keine Vereinigung der Armeen, sondern eine Abwicklung der NVA", sagt Historiker Wenzke. Das Material der NVA ging in den Besitz der Bundeswehr über, die zudem 11 000 Berufssoldaten integrieren musste. Diese hatten in der Regel Herabsetzungen ihrer Dienstgrade in Kauf zu nehmen und waren zunächst Zeitsoldaten auf Probe für zwei Jahre.

Joachim Knorr, bis zur Wende NVA-Hauptmann in Bautzen, erzählte in Neubiberg davon, wie er bei seiner Übernahme zum Hauptmann herabgestuft wurde. Der 61-Jährige, der 1996 seine Stelle am Institut für Hochfrequenztechnik und Nachrichtenübertragungstechnik der Universität antrat, hat aus der "Armee der Einheit" eine Lehre gezogen: "Beide Seiten zu beleuchten, andere Meinungen hören und gelten lassen" - das sei in der NVA nicht alltäglich gewesen.

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