Erinnerungskultur:Die Nacht der Schande

Gedenkfeiern

Im Landkreis Dachau finden mehrere Gedenkfeiern für die Opfer der Reichspogromnacht vor 81 Jahren statt.

(Foto: Niels P. Jørgensen)

Die Nazis vertrieben bei den Novemberpogromen vor 81 Jahren jüdische Bürger aus Dachau. Wenig später sperrten sie 11 000 Juden ins KZ. An die Opfer dieser Verbrechen erinnern an diesem Wochenende mehrere Gedenkfeiern.

Von Anna-Elisa Jakob, Dachau/Karlsfeld

Das Gedenken klammert sich an Daten, die das Grausame zu fassen versuchen: Der 9. November 1938 ist ein solcher Tag; in Deutschland brannten Synagogen, die Schergen des Nazi-Regimes trieben jüdische Bürger aus ihrem Zuhause und in Konzentrationslager, raubten ihnen all ihren Besitz. In Dachau waren es zwei SS-Männer, die bereits in der Nacht zuvor an die Türen jüdischer Bürgerinnen und Bürger klopften und sie aufforderten, die Stadt noch vor Sonnenaufgang zu verlassen. Noch im selben Jahr sollten 11 000 Juden aus ganz Deutschland in das KZ Dachau deportiert werden.

Nun, 81 Jahre später, fügte sich ein Datum in das kollektive Gedächtnis, das in nahezu keiner Einladung zum Gedenken an die Novemberpogrome an diesem Wochenende unerwähnt bleibt. Der antisemitische Anschlag auf die Synagoge in Halle am 9. Oktober. Viele der Initiatoren appellieren in diesem Jahr neben dem Gedenken an die Opfer des staatlichen Antisemitismus und Massenmordes unter den Nationalsozialisten genauso an Solidarität für die jüngsten Opfer antisemitischer Gewalttaten inmitten der heutigen Gesellschaft.

"Vor dem Hintergrund der Ereignisse in Halle und des aufflammenden Antisemitismus wollen wir damit ein Zeichen setzen"

So in Karlsfeld. Zum ersten Mal ist es die Gemeinde, die eine offizielle Gedenkfeier anlässlich des Jahrestages der Novemberpogrome ausrichtet. 2017 hatte diese erstmals der jüdische Verein "Jad b Jad" initiiert; in diesem Jahr kommt die Einladung nun aus dem Rathaus. "Vor dem Hintergrund der Ereignisse in Halle und des aufflammenden Antisemitismus wollen wir damit ein Zeichen setzen", erklärt Stefan Handl, zweiter Bürgermeister von Karlsfeld. Ein paar Tage vor der Veranstaltung ist noch nicht sicher, wer am Sonntag im Karlsfelder Bürgertreff die Eröffnungsrede halten wird, denn man ist versucht, möglichst viele "gesellschaftliche Kräfte zu finden". Kirchen, Vereine, politische Vertreter, man sammle noch Unterstützung.

In Dachau, in dessen Rathaus an diesem Samstagabend die zentrale Gedenkfeier im Landkreis stattfinden wird, ist dieses Ringen um Unterstützung bekannt. Die erste Gedenkfeier fand hier fünfzig Jahre nach den Novemberpogromen statt, der Anstoß dafür kam damals aus der Zivilbevölkerung. Hans Holzhaider, Journalist der Süddeutschen Zeitung, hatte erstmals die Schicksale der jüdischen Bürger recherchiert, die während der Novemberpogrome aus Dachau vertrieben wurden. Diese Einzelgeschichten stellte man aus unter dem Titel "Dachau ist somit völlig judenfrei" - ein Zitat des damaligen Dachauer NS-Bürgermeisters Hans Cramer. Dieser hatte im Januar 1939 dem NSDAP-Kreisleiter gemeldet, dass "Dachau völlig judenfrei" sei. Was für ein Zynismus angesichts der Tatsache, dass die Nazis im Zuge der Novemberpogrome 11 000 Juden ins Konzentrationslager Dachau sperrten. Zehn Jahre nach der ersten Gedenkfeier in Dachau übernahm die Stadt erstmals die Schirmherrschaft. Heute erinnert eine Tafel im Rathaus an die jüdischen Einwohner, die damals aus Dachau vertrieben wurden.

Max und Melitta Wallach

Max und Melitta Wallach aus Dachau. Wie alle Juden wurden sie vor der Pogromnacht 1938 vertrieben.

(Foto: SZ-Archiv)

Die Zahl der Zeitzeugen der Shoa schwindet und mittlerweile sind es meist Kinder und Enkelkinder, die Geschichten ihrer verfolgten und ermordeten Vorfahren weitergeben, erinnern und mahnen. Im Dachauer Rathaus werden am Samstagabend die Enkel der Familie Wallach sprechen. An der Tür ihrer Familie, die damals eine große Trachtenfabrik in der Hermann-Stockmann-Straße betrieben hatte, klopften in jener Nacht die beiden SS-Männer. Die Familie floh aus Dachau, 1942 wurden Melitta und Max Wallach in das Ghetto Theresienstadt deportiert und ein Jahr vor Kriegsende in Auschwitz ermordet. Einzig ihr Sohn Franz sollte den Holocaust überleben; er konnte als 15-Jähriger nach England emigrieren. Als sechzig Jahre nach Kriegsende die ersten Stolpersteine für die Opfer des NS-Regimes in Dachau verlegt wurden, kehrte er unter seinem neuen Namen Frank Wallace in seine Heimatstadt zurück. Er hatte in England studieren können, wurde Professor an der Universität in Bath. Vor zehn Jahren verstarb Wallace - und an diesem Wochenende sind es seine Enkelkinder Mark und Paul, die an der Gedenkfeier über das Schicksal ihrer Familie sprechen.

Gedenkfeier in der KZ-Gedenkstätte Dachau

"Solange Zeitzeugen noch bereit und in der Lage sind, solche Gespräche zu führen, ist es unser großes Bemühen, diese einzuladen", so Björn Mensing, Pfarrer der Versöhnungskirche Dachau. Dass nun vor allem Menschen wie Mark und Paul Wallace, also Betroffene der zweiten, dritten oder zum Teil schon vierten Generation sprechen, ist einer der Wege, um die Erinnerungsarbeit weiterhin möglichst nahbar zu gestalten. Ideen sind auch "Szenische Lesungen", wie sie Mensing erwähnt, in denen Originalberichte, Briefe, Quellen von Zeitzeugen vorgetragen werden. Oder Dokumentationen und Spielfilme, die zu Gesprächen anregen sollen. Besonders junge Menschen möchte man erreichen. Vielleicht gelingt das, "indem Veranstaltungen Brücken schlagen", wie es Mensing nennt - indem junge Menschen mit in die Gestaltung einer Veranstaltung einbezogen werden. Im Dachauer Rathaus werden am Samstagabend Schüler des Ignaz-Taschner-Gymnasiums Musikstücke spielen.

Tatsächlich sind es junge Menschen, die in Dachau die Gedenkfeier mit der längsten Tradition organisieren. Bereits seit 1952 erinnert der Jugendverband der bayerischen Gewerkschaften (DGB) jährlich in der Gedenkstätte an die Opfer der Novemberpogrome. Zentraler Part der Veranstaltung ist, dass Jugendliche Biografien von KZ-Häftlingen recherchieren und vortragen - über ihre Verfolgung, ihren Leidensweg, ihren Tod oder ihr Leben nach dem Holocaust. Es sind die einzelnen Geschichten, die der Erinnerung das Menschliche verleihen, auch in seiner äußersten Grausamkeit.

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Max und Melitta Wallach

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