Festakt zum 9. November 1989:Mit Rosen gegen Mauern

30th anniversary of the fall of the Wall in Germany

Kanzlerin Merkel und Bundestagspräsident Schäuble bei der Feier zum 30. Jahrestag des Mauerfalls.

(Foto: REUTERS)

Bei der Gedenkfeier zeigt sich die Kanzlerin so fröhlich und gelöst wie selten. Der Bundespräsident würdigt die Rolle der östlichen Nachbarn und ein junger Slowake hat eine simple, aber leidenschaftliche Botschaft.

Von Stefan Braun, Berlin

Angela Merkel ist schon lange da. Bereits eine halbe Stunde, bevor es losgeht an diesem grauen Vormittag in Berlin, ist sie an der Mauer-Gedenkstätte in der Bernauer Straße eingetroffen. Und sie zeigt sich den Leuten in Plauderlaune. Selten kann man die Kanzlerin derart gelöst und vor der Zeit erleben - was zum Gedenken an den Fall der Mauer natürlich passt, ist doch aus der einstigen Jung-Wissenschaftlerin nach der Wiedervereinigung eine Ministerin, eine Parteichefin und eine deutsche Regierungschefin geworden.

Als wolle sie ihre Freude darüber an diesem 9. November 2019 ganz besonders zeigen, strahlt sie die Leute an, geht selbst auf einige zu, mag sich trotz Aufforderung so gar nicht auf den Stuhl setzen, den ein Ordner ihr früh zuweisen möchte. In der Hand hält Merkel eine orangefarbene Rose, wie alle Ehrengäste und überhaupt alle Besucher an diesem Tag hat auch die Kanzlerin eine Blume in die Hand bekommen, um sie später in eine Ritze des hier verbliebenen Mauerstücks zu stecken. Mit Rosen die Mauer durchlöchern - das soll das Bild werden für diesen Gedenktag.

Später, in der Gedenkkappelle, sagt Merkel ein paar Worte. Sie erinnert an die Freude vor dreißig Jahren, aber auch an die Reichspogromnacht am 9. November 1938. Das soll keinesfalls untergehen, auch nicht an einem ansonsten freudigen Jubiläum wie diesem. Zum Schluss zitiert die Kanzlerin Reiner Kunze, den Schriftsteller, der 1976 aus dem Schriftstellerverband der DDR ausgeschlossen wurde und im Jahr darauf in die Bundesrepublik übersiedelte. Zur Mauer schrieb er: "Als wir sie schleiften, ahnten wir nicht, wie hoch sie ist in uns. Wir hatten uns gewöhnt an ihren Horizont. Und an die Windstille. In ihrem Schatten hatten alle keine Schatten. Nun stehen wir entblößt jeder Entschuldigung." Das, so Angela Merkel, gelte heute für alle, in Ost und West: "Wir stehen da entblößt jeder Entschuldigung und sind aufgefordert, das Unsere für Freiheit und Demokratie zu tun."

Vor Merkel hat bereits die ehemalige Bürgerrechtlerin Hildigund Neubert gesprochen. Unter den mehreren Hundert Gästen, die ihr zuhören, sind auch die Staatsoberhäupter von Polen, Tschechien, Ungarn und der Slowakei, Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hatte sie eingeladen. Neubert spricht zu ihnen über den Mut vorher und die Sorgen nachher. Ausführlicher als alle anderen aber spricht sie auch über die Schmerzen und Trauer, die so viele Menschen mit der Mauer verbinden. Und über die Jahre, in denen die Mauer von vielen, viel zu vielen Menschen hingenommen worden sei.

Ja, heute stehe die Mauer im Museum, so Neubert. Aber man wisse ja, dass das, was im Museum stehe, mal "einen Platz im Leben" gehabt habe. Und zwar einen schrecklichen Platz. Denn: "Die Mauer war auch ein Ort des Todes." So sehr diese über viele Jahre die Menschen bedroht und provoziert habe - so sehr hätten sich doch viele Menschen in der Welt an sie gewöhnt. Selbst im Westen, klagt Neubert, habe es genug Leute gegeben, auch in der Politik, die der Mauer einen Sinn abgewinnen wollten, die sich mindestens aber an sie gewöhnt gehabt hätten. "Sie wurde hingenommen, wie ein Frost im Winter, wie ein Stein im Steinbruch, wie ein Schlagloch in der Straße." Die Wahrheit dagegen habe niemand ausgesprochen, niemand aussprechen wollen. Neuberts Erklärung dafür fällt poetisch aus: "Die schamhaftige Zeit, sie sei sonst, wie sie sei, die Zeit. Sie liebt die Verschämlichkeit. Sie kann die Wahrheit nackt nicht leiden. Drum ist sie emsig, sich zu kleiden."

Die Hoffnung: Der Dank für Historisches könnte aktuellem Streit die Spitze nehmen

Bundespräsident Steinmeier wird weniger poetisch, eher sehr politisch an diesem Tag. Ihn beschäftigt mehr denn je die harte, ja garstige politische Lage in Europa. Deshalb wollte er diesen Tag für eine kleine Brücke in den Osten nutzen, deshalb die Einladung an seine Kollegen aus den Visegrád-Staaten. Steinmeier wollte ihnen bei allen Konflikten in der EU noch einmal auf besondere Weise danken. Verbunden sicher auch mit der Hoffnung, dieser Dank für großes Historisches könne manchem aktuellen Streit vielleicht die Spitze nehmen.

Und so stehen Milos Zeman, der tschechische Präsident, Andrej Duda aus Polen, Janos Ader aus Ungarn und die Slowakin Suzana Caputova an diesem Morgen unter einem sehr grauen Berliner Himmel, als Steinmeier an alle, aber ganz besonders an die vier gerichtet seine zentrale Botschaft vorträgt: "Ohne den Mut und den Freiheitswillen der Polen und der Ungarn, der Tschechen und Slowaken", so der Bundespräsident, "wäre die deutsche Einheit nicht möglich gewesen." Der Tag erinnere an eine große historische Leistung, aber auch an die Tatsache, "dass wir heute in Europa zu unserem Glück vereint sind."

Diesen Gedanken greift wenig später noch ein anderer auf, der sich eher nicht einen Politiker nennen würde. Es ist am Ende einer knapp einstündigen Zeremonie ein junger Slowake, der das Steinmeiersche Motiv in andere, konkretere Worte fasst. Er gehört zu einer Gruppe von Jugendlichen aus den östlichen Nachbarstaaten, die vor der Kulisse der Mauer ein paar Zeilen verlesen. Die Botschaft, auf die es ihm ankommt, ist so einfach wie leidenschaftlich: "Wir haben ein wunderbares Leben in Europa. Deswegen müssen wir unter allen Umständen zusammenhalten."

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