Literaturfest:Selbstkritische Kämpfer

Literaturfest: Ist das Bewusstsein heute wichtiger als das Sein? Timothy Garton Ash analysiert Krisengefühle.

Ist das Bewusstsein heute wichtiger als das Sein? Timothy Garton Ash analysiert Krisengefühle.

(Foto: Catherina Hess)

Auftakt mit Denkanstößen von Timothy Garton Ash

Von Antje Weber

Hongkong, zum Beispiel. Was haben die Demonstrationen mit den Umbrüchen von 1989 zu tun? Auch das China von heute sei ein Produkt der damaligen Entwicklungen, erklärte Timothy Garton Ash am Mittwoch im Gasteig. Aus dem Massaker auf dem Tian'anmen-Platz, dem Zusammenbruch des Kommunismus in Mittel- und Osteuropa habe die Führung in Peking gelernt - und ein neues System aufgebaut. Ein System mit Schwächen und Spannungen, die sich derzeit in Hongkong entladen, wo die Demonstranten ähnliche Ziele verfolgen wie ihre Vorgänger 1989: "Die Aussichten sehen aber leider viel, viel schlechter aus." Weswegen Ash zumindest mit der typischen Fünf-Finger-Geste seine "moralische Solidarität" zeigen wollte.

Mühelos verband der britische Historiker in seinem weltumspannenden Vortrag "1989/2019: Die Krise der Nachmauerwelt" bei der Eröffnung des zehnten Literaturfests die Vergangenheit mit der politischen Aktualität. Den Tonfall für den bei aller Jubiläumsfreude ernsthaften und auch aufrüttelnden Eröffnungsabend hatte bereits Literaturfest-Geschäftsführerin Tanja Graf vorgegeben: Wir alle seien "das Rückgrat der Demokratie", zitierte sie die Schriftstellerin Juli Zeh, "sofern wir selbst ein Rückgrat besitzen". Auch Kulturreferent Anton Biebl, für den Oberbürgermeister eingesprungen, versprach der versammelten Branche nicht nur, sich für "beste Bedingungen" für Buchhändler und Verlage einzusetzen und das Literaturfest zu stärken. Die Stadt wolle sich überhaupt für ein "Klima der freien Meinungsäußerung" einsetzen. Auch in Hinblick auf Ahmet Altan, den erneut inhaftierten Geschwister-Scholl-Preisträger, beschwor Biebl die Notwendigkeit, "Meinungsfreiheit und Menschenrechte entschieden zu verteidigen".

Vielleicht sind es besonders Lesende, die sich dazu berufen fühlen könnten, deutete Schriftsteller Ingo Schulze an. Der Kurator des diesjährigen Forum:Autoren über "Fragen an die Welt nach 1989" wurde nicht nur in einem Film mit dem von Imre Kertész inspirierten Satz zitiert, Lesen sei "gesteigertes Leben". Im Gespräch mit SZ-Feuilletonchefin Sonja Zekri schlussfolgerte Schulze auch, Lesende könnten "einen anderen Zwang spüren zu handeln".

Damit war er nicht weit weg von Timothy Garton Ash, der zuvor die Frage gestellt hatte, was der Freiheit und Vernunft verpflichtete Liberale heute tun sollten: "Selbstkritische Kämpfer sein", war die wichtigste Antwort Ashs, der sich "langfristig optimistisch" gab. Leider nur habe der Liberalismus drei Fehler des Kommunismus wiederholt: Den Triumph der Freiheit von 1989 habe man fälschlich für neue Normalität gehalten, der Liberalismus sei zu einem geschlossenen Denkgebäude geworden und zu sehr auf die wirtschaftliche Dimension reduziert. Nicht die wirtschaftliche Ungleichheit sei jedoch heute entscheidend für die Wut vieler Menschen, sondern "die Ungleichheit des Respekts".

Darin, Respekt zu zollen, konnten sich die Zuhörer sogleich üben: Für das "Poetry Project" der Autorin Susanne Koelbl standen die vor Jahren aus Syrien und Afghanistan nach Deutschland geflüchteten Jugendlichen Rojin Namer, Shahzamir Hataki und Samiullah Rasouli auf der Bühne und lasen bewegende Texte über Krieg, Flucht, Schuldgefühle. Auch sie gehören zu unserer Welt nach 1989, einer Welt der neuen Fragen.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: