Football:Der Unberechenbare will zurück

Football: Der Moment, als alles begann: Colin Kaepernick (re.), der Quarterback der San Francisco 49ers, kniet sich während der Nationalhymne aus Protest auf den Boden, einige Teamkollegen machen es ihm nach.

Der Moment, als alles begann: Colin Kaepernick (re.), der Quarterback der San Francisco 49ers, kniet sich während der Nationalhymne aus Protest auf den Boden, einige Teamkollegen machen es ihm nach.

(Foto: Mike McCarn/AP)

Seit Kaepernick kniend gegen Rassismus protestierte, ist er arbeitslos. Am Samstag kann er sich für einen Klub empfehlen.

Von Jürgen Schmieder, Los Angeles

Colin Kaepernick wird am Samstag ein Probetraining für alle Football-Teams der US-Profiliga NFL absolvieren, und wer wissen will, warum das so bedeutsam ist, der sollte sich an jenes Spiel der San Francisco 49ers bei den Los Angeles Rams an Heiligabend 2016 erinnern. Kaepernick war Quarterback der 49ers und schon deshalb bei den Fans der Gastgeber nicht beliebt. Sie schimpften ihn "Schwuchtel", "Verräter", "Nigger"; nach einem Zusammenstoß rief einer: "Hoffentlich haut diesem verdammten Arschloch heute jemand die Kniescheibe raus, damit er endlich aus dieser Liga verschwindet!" Noch einmal: Es geschah an Heiligabend.

Es war das bis heute vorletzte Spiel in der Laufbahn von Kaepernick, er ist drei Jahre später noch immer aus der NFL verschwunden. Und das, obwohl die Kniescheiben intakt sind, der Rest des Körpers ebenfalls; Kaepernick erklärt, er sei topfit. Und nun kann dies am Samstagnachmittag in Atlanta/Georgia begutachtet werden. Sein bisher letztes NFL-Spiel absolvierte Kaepernick am 1. Januar 2017. Nur zwei Monate später entschloss er sich, seinen auslaufenden Vertrag in San Francisco nicht zu verlängern.

Kaepernicks Verschwinden hatte damit begonnen, dass er bei einem Vorbereitungsspiel im Sommer 2016 beim Abspielen der Nationalhymne sitzen blieb. Anschließend sagte er: "Ich werde nicht für die Flagge eines Landes aufstehen, in dem Schwarze und andere Minderheiten unterdrückt werden." Nach Rücksprache mit ehemaligen Soldaten kniete er von da an, im Laufe der Saison schlossen sich weitere Akteure dem stillen Protest gegen Rassismus und Polizeigewalt an.

Donald Trump, kurz zuvor zum Präsidenten gewählt, nutzte die Aufregung für seine America-first-Doktrin. Er befahl seinem Vizepräsident Mike Pence, das Stadion zu verlassen, weil Akteure knieten. Im September 2017 rief Trump seinen johlenden Anhängern in Huntsville/Alabama zu: "Würdet ihr es nicht lieben, wenn jemand unsere Flagge verachtet und der Eigner darauf sagt: Nehmt den Hurensohn vom Feld. Er ist gefeuert. Er ist gefeuert."

Ist das Training Chance? Oder Farce? Damit die NFL sagen kann: Er hatte doch seine Möglichkeit

Kaepernick war bei seinem bislang letzten NFL-Spiel 29 Jahre alt, er stand in der Blüte seiner sportlichen Laufbahn. Er hatte San Francisco im Jahr 2013 ins Endspiel geführt (31:34 gegen die Baltimore Ravens). Und er hatte gemeinsam mit Quarterbacks wie Michael Vick (damals Philadelphia Eagles) und Russell Wilson (Seattle Seahawks) eine Revolution auf dieser zentralen Position initiiert. Kaepernick ist mit einem ausbalancierten Körpergefühl gesegnet, er konnte heranstürmenden Verteidigern geschickt ausweichen und seinen Passempfängern so mehr Zeit zum Freilaufen verschaffen. Zudem hatte er ein Gespür für die Situationen auf dem Spielfeld, er konnte Spielzüge spontan ändern und trotz einer vereinbarten Passspielvariante selbst laufen. Er war: unberechenbar.

Auf der NFL-Webseite gibt es neben der Ankündigung des Probetrainings eine Analyse mit dem Titel "Quarterback Revolution". Gezeigt werden aktuelle Darsteller wie Lamar Jackson (Baltimore Ravens), Patrick Mahomes (Kansas City), DeShaun Watson (Houston Texans) und Kyler Murray (Arizona Cardinals). Sie alle sind ein bisschen wie Kaepernick, ein bisschen wie Vick, ein bisschen wie Wilson. Letzterer dürfte in dieser Saison zum wertvollsten Spieler der Liga gewählt werden - Kaepernick ist noch immer arbeitslos.

Er hatte die Liga verklagt, wegen Diskriminierung und entgangener Einnahmen. Im Februar kam es zur außergerichtlichen Einigung. Die Liga hat weniger als zehn Millionen Dollar Entschädigung bezahlt, dafür durfte sie ein Statement mit diesen Sätzen veröffentlichen: "Die Beteiligten haben beschlossen, ihre Differenzen beizulegen. Der Beschluss enthält eine Verschwiegenheitserklärung, es wird keine weiteren Kommentare geben." Die NFL hat sich freigekauft, und sie ist relativ günstig davongekommen. Experten hatten errechnet, dass Kaepernick, wäre er Stammspieler gewesen, bis zum Urteilsspruch bis zu 80 Millionen Dollar hätten zustehen können.

Kaepernick ist zu einem Symbol der Bürgerrechtsbewegung geworden, das rote Trikot vom ersten Protesttag mit der Nummer "7" hängt im Smithsonian National Museum in Washington DC als Teil einer Black-lives-matter-Ausstellung ("Schwarze Leben zählen"). Ein Sportausrüster hat ihn für eine Kampagne (Slogan: "Glaube an etwas - auch wenn das bedeutet, dass du alle dafür opfern musst") zum Märtyrer gemacht, Kaepernick selbst hat mehr als eine Million Dollar an gemeinnützige Organisationen gespendet. Und: Er steht eigenen Angaben zufolge jeden Tag um 4.30 Uhr auf und trainiert für die Chance, doch noch einmal in der NFL zu spielen. Die Chance könnte kommen - oder doch nicht?

Gewöhnlich werden solche Probetrainings detailliert geplant und während der Saison an einem Dienstag abgehalten, dem freien Tag in dieser Liga, weil dann Trainer und Manager zusehen können. Die NFL hatte Kaepernick nicht gefragt, sondern ihn und 32 Teams lediglich über den möglichen Termin an diesem Samstag informiert und ihm eine Frist von zwei Stunden für eine Antwort gesetzt. Ein paar Vereine, zum Beispiel die Miami Dolphins, Detroit Lions, New York Jets, haben angekündigt, Späher zum Training schicken zu wollen, aus dem Umfeld zahlreicher Klubs heißt es zudem, dass sie persönlich mit Kaepernick sprechen wollten.

Nun wird es spannend. Kaum jemand weiß, ob Kaepernick, der gerade seinen 32. Geburtstag gefeiert hat, noch in der Lage ist, einer NFL-Franchise zu helfen - obgleich er schon 90 Prozent seiner Fähigkeiten eingebüßt haben müsste, um schlechter zu sein als Quarterback-Stammkräfte wie Ryan Fitzpatrick (Dolphins), Dwayne Haskins (Washington Redskins) oder Brandon Allen (Denver Broncos). Eine zentrale Frage in diesen Gesprächen dürfte sein, ob Kaepernick erneut protestieren wird, ob er bei der Hymne knien wird. Kaepernick bleibt für viele Klubs: unberechenbar.

Ist das Training eine faire Chance für Kaepernick? Oder eine Farce? Eine Aktion der NFL, damit sie ihrem Publikum demonstrieren kann: Seht her, wir haben alles unternommen? Es ist nicht unsere Schuld, dass er keinen Job mehr hat.

"Ich bin bereit und in Form", teilt Kaepernick via Twitter über das Probetraining mit, das hinter verschlossenen Türen abgehalten wird. Und über das bislang keine Details bekannt sind (ob zum Beispiel Kaepernicks Privattrainer Josh Hidalgo oder andere Spieler für gezielte Übungen dabei sein werden). Wichtiger ist ohnedies, was anschließend passieren wird, sollte Kaepernick als einsatz- und konkurrenzfähig eingestuft werden und einen neuen Arbeitgeber bekommen.

An Heiligabend finden in diesem Jahr keine Partien statt, am Tag davor jedoch sind alle 32 Teams im Einsatz.

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