Eiskunstlauf:Gestreckt vom Zeh bis in die Fingerspitzen

Figure skating, Eiskunstlauf - Golden Bear ZAGREB,CROATIA,27.OCT.19 - FIGURE SKATING - 31st Golden Bear. Image shows Ni

Kunstlauf, nicht Sprunglauf: Nicole Schott tritt an diesem Wochenende beim Grand-Prix-Wettbewerb in Moskau an.

(Foto: imago images/GEPA pictures)
  • Im Eiskunstlauf vollzieht sich ein Paradigmenwechsel: immer kompliziertere Sprünge von immer jüngeren Sportlerinnen.
  • Die Deutsche Nicole Schott hingegen setzt auf Ausdruck und Artistik auf dem Eis - und hat so viel Freude wie nie zu vor.

Von Barbara Klimke, Oberstdorf

Kühles Mittagslicht fiel durch die Hallenfenster, auf den Bergen ringsum lag der erste Schnee, und über dem Eis schwebte der Blues. Nicole Schott jagte mit wirbelnden Drehungen über die Bahn. Ein paar Aufwärmrunden, dann legte sie die Trainingsjacke ab und nahm zum vibrierenden Gitarrensound ihre Schritt- und Richtungswechsel bei hohem Tempo wieder auf. "Ich entdecke gerade völlig neue Dinge", sagte sie strahlend, als sie eine Dreiviertelstunde später, etwas zur Ruhe gekommen, im Foyer der Eishalle von Oberstdorf auf einer Holzbank saß. Es war die zweite von drei Trainingseinheiten an diesem Tag. "Mir hat das Eislaufen schon immer Spaß gemacht", erzählte sie, "aber noch nie so viel wie jetzt".

Bei allen Bedenken, die aus der Branche zu hören sind, ist das ein erstaunlicher Befund. Denn der Eiskunstlauf der Frauen ist gerade einem Paradigmenwechsel unterworfen. Der Trend geht zu sehr jungen Läuferinnen und zum Sprungspektakel. Alexandra Trussowa, 15, ein Leichtgewicht aus Moskau, war die Erste, die vor Jahresfrist den Vierfach-Lutz bei den Frauen einführte, eine Höchstschwierigkeit aus dem Männer-Repertoire. Mit drei Vierfach-Sprüngen in einer Kür hat sie in dieser Saison den Grand-Prix-Wettbewerb Skate Canada gewonnen. Anna Schtscherbakowa, 15, die beim Lutz auch viermal um die Achse wirbeln kann, siegte gleich zweimal, beim Grand Prix in China und bei Skate America. Aljona Kostornaja, 16, hat mit zwei Dreifach-Axeln, ebenfalls Mordssprüngen, den Grand Prix in Frankreich für sich entschieden. Die dramatische Drehzahlsteigerung lässt die Kritiker befürchten, dass der Sport seine Seele verlieren könnte. Oder zumindest seinen Wesenskern, das Wörtchen "Kunst" in seinem Namen.

Ihre Konkurrenz sind die, "die schon erwachsen sind"

Trotz dieses gnadenlosen Innovationsdrucks fühlt sich also Nicole Schott, eine Frau, deren Stärke in Ausdruck und Artistik liegt, so wohl wie nie in ihrer Karriere. Obwohl sie keine Dreifach-Axel aufs Eis nagelt - von Vierfachen ganz zu schweigen.

Tatsächlich ist Nicole Schott, 23, dreimalige deutsche Meisterin, in dieser Woche relativ unbekümmert zum fünften Grand Prix des Eiswinters nach Moskau aufgebrochen, für den sie nachnominiert wurde, weil eine französische Mitbewerberin ausfiel. Vom Festival der phänomenalen Hüpfer, das die Jüngeren derzeit veranstalten, hat sie sich im Geiste weitgehend emanzipiert. Zum einen, weil sie selbst kein Kind mehr ist. "Die sind ja noch winzig", sagte Schott in Oberstdorf: Ein Hinweis auf die Gesetze der Biomechanik, wonach ein Körper mit kleiner Masse und geringem Trägheitsmoment schneller drehen kann - was jungen Mädchen Vorteile verschafft. Zum anderen glaubt sie, dass der Luftzirkus über dem Eis womöglich nur eine Mode ist, die kommt und wieder geht: "Die Belastung für die Gelenke ist ja enorm."

So setzte sie sich unabhängige Ziele und genießt nun "die anderen Dinge des Eiskunstlaufs", wie sie es formulierte, die neuen Schritte, den Speed, die ungewohnten Choreografien. Bei Wettkämpfen hat sie ihren eigenen Kreis von Konkurrentinnen auserkoren unter den Französinnen, Amerikanerinnen und jenen Russinnen, die schon erwachsen sind: "Von denen möchte ich die Beste sein." Im September war sie Dritte bei der Nebelhorn-Trophy in Oberstdorf, dem traditionellen Saisoneröffnungswettbewerb, als erste deutsche Läuferin seit 23 Jahren; Platz sieben belegte sie beim Grand Prix in Frankreich, trotz eines verkorksten Kurzprogramms.

Auch ihr Trainer Michael Huth, 50, der zuvor Carolina Kostner auf dem Weg zum WM-Titel 2012 begleitet hatte, sieht sie auf einem guten Pfad: "Wir versuchen, dass wir über die Qualität ihrer Elemente möglichst nahe an die Spitze herankommen", sagte er. Dafür sei es wichtig, dass Nicole Schott im Wettkampf "die Schärfe und positive Aggressivität nicht verliert". Denn es sei ja so, erklärte Huth: Man komme derzeit an drei Russinnen nicht vorbei, wenn man in Europa aufs Podest wolle. Für eine Läuferin bedeute dies, dass sie Stabilität im Vortrag erreichen müsse, um in der Lage zu sein, den "kleinen Glücksmoment" zu nutzen, wenn die Konkurrentinnen mal einen schlechten Tag erwischten. Auch deshalb arbeite er gern mit Nicole Schott: "Weil ich mich freue, wenn es uns gelingt, das Leistungspotenzial auf einem gesunden Niveau eines Athleten auszuschöpfen." Die Betonung liegt auf "gesund".

Während die Jüngeren um die Wette springen, entdeckt Nicole Schott den Blues für sich

Und so verfolgen sie das, was Nicole Schott die "Langzeitphilosophie" ihres Trainers nennt: Dazu gehört selbstverständlich das Feilen an den Sprüngen, aber vor allem die Präzision des Ausdrucks jener Emotionen, die den Kufenlauf zur Kunstform machen. B-Note, so hieß das früher, im heutigen Wertungs-Jargon spricht man von "Program Components". Im Training legen sie auf alles Wert, auf die Streckung von der Fußspitze bis zur Fingerspitze, erklärte Nicole Schott, "und auch an den Schrittfolgen wird ständig herumgedoktert: hier eine Wende, dort eine Gegenwende, damit die Bewegung fließt".

Am Dreifach-Axel hat sie sich voriges Jahr ebenfalls versucht: an jenem Element mit, genau genommen, dreieinhalb Rotationen in der Luft, das nur eine Handvoll Frauen beherrscht. "Ich war nah dran!", erzählte Nicole Schott, doch sie stürzte, war zehn Wochen verletzt und hatte danach kurz das Vertrauen in das Springen verloren, das sie sogar mehr liebt als das Pirouettendrehen. Ob sie das Risiko noch mal eingeht? Sie weiß es nicht. "Man wird ja nicht jünger", sagte sie - mit 23 Jahren.

Dieses Jahr hat sie sich auf die neuen Programme konzentriert, die das Gegenteil der elegischen Nummern sind, nach denen sie früher über das Eis zu schweben pflegte. Nun also: Kung Fu für die Kür und Beth Harts rauchig-rockiges "Caught Out in the Rain" im Kurzprogramm. "Es macht Spaß, mal sein normales Ich hinter sich zu lassen", sagte sie. Sollen die Jüngeren doch vierfach hüpfen; Nicole Schott hat dafür den Blues entdeckt.

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