Film über Kindesmisshandlung:"Jede Woche sterben drei Kinder in Deutschland"

Fernsehfilm ´Stumme Schreie"

Paul (Elias, 2.v.l.) wurde von seiner Mutter misshandelt. Der Film, der am 18.11. im ZDF läuft, hat als Grundlage ein Sachbuch des Rechtsmediziners Michael Tsokos.

(Foto: dpa)

Rechtsmediziner Michael Tsokos hat ein Buch über Kindesmisshandlung geschrieben, das fürs ZDF adaptiert wurde - als Spielfilm. Ist das der richtige Weg, um Aufmerksamkeit zu schaffen?

Interview von Anna Fischhaber

Das Thema ist verstörend, und trotzdem ist der Film zwischendurch recht kitschig geraten. Stumme Schreie erzählt von einer jungen Ärztin, die während eines Praktikums mit dem Schicksal misshandelter Kinder konfrontiert wird. Die Geschichte basiert auf dem Sachbuch "Deutschland misshandelt seine Kinder", das auf erschreckende Weise offenlegt, wie verbreitet die Gewalt ist. Verfasst hat es der Rechtsmediziner Michael Tsokos mit seiner Kollegin Saskia Guddat. Er ist Vater von fünf Kindern und leitet das Institut für Rechtsmedizin an der Charité in Berlin. 2014 gründete er die erste Gewaltschutzambulanz in der Hauptstadt, in der Opfer ihre Verletzungen rechtsmedizinisch untersuchen und dokumentieren lassen können. Ein Gespräch über Gewalt gegen Kinder und die filmische Inszenierung von Leid.

SZ: Herr Tsokos, der Film nach Ihrem Sachbuch ist berührend bis kitschig geworden, etwa wenn die junge Assistenzärztin von ihrer eigenen schweren Kindheit eingeholt wird. Muss ein Film so abstrahieren, damit die Leute hinsehen?

Michael Tsokos: Es ist auf jeden Fall eine Form, die funktioniert, die wahrscheinlich mehr packt als eine Dokumentation. Mir ist das recht. So können wir mit dem Thema viele Menschen erreichen. Mir geht es weniger um die Einschaltquote, sondern darum, dass das sich etwas bewegt.

Und, bewegt sich was?

Ich habe mal die damalige Familienministerin Manuela Schwesig getroffen. Sie hat viel zugesagt, dann habe ich nie wieder was gehört. Jetzt haben wir schon die übernächste Familienministerin und passiert ist nichts.

Der Film ist nun irgendwas zwischen Drama und Krimi geworden. Wie zufrieden sind Sie mit dem Ergebnis?

Der Film berührt, das gefällt mir. Ein fiktionaler Film über so ein ernstes Thema kann nach hinten losgehen. Mir liegt das Thema sehr am Herzen, deshalb war es mir wichtig, dass die medizinischen Details stimmen. Ich war oft am Set und habe beraten. Etwa wie ein Obduktionssaal aussieht oder wie man eine Verletzung erkennt, die durch Gewalt entstanden ist.

Im Mittelpunkt stehen zwei Fälle: Ein Mann, arbeitslos, gewalttätig, schüttelt das Baby seiner Freundin tot. Eine Mutter aus der oberen Gesellschaftsschicht drückt die Hand ihres Sohnes auf die heiße Herdplatte. Haben Sie das so erlebt?

Ich bin seit 25 Jahren Rechtsmediziner, schon als Assistenzarzt hatte ich mit Kindern zu tun, die verprügelt wurden. Mache waren danach blind, andere lagen ein Jahr später tot auf meinem Obduktionstisch. Ich erinnere mich an ein zweijähriges Mädchen, das von ihrem Stiefvater schwer misshandelt wurde, über Stunden musste sie an einer glühend heißen Heizung stehen und die Mutter hat nicht eingegriffen, hat dann sogar noch Bier und Zigaretten geholt. Ich kann zehn solcher Fälle hintereinander aufzählen. Wenn man dann solchen Leuten gegenübersitzt und weiß, dass die Großeltern vorher beim Jugendamt waren und gewarnt haben, dass etwas passieren würde, und keiner hat reagiert - geht das schon ganz schön unter die Haut.

Kinderarzt und Jugendamt kommen in dem Film schlecht weg, die Helden sind die Rechtsmediziner. Ist das nicht ein wenig übertrieben?

Solche Vorwürfe kann man sicher nicht pauschalieren, aber die Mitarbeiter vieler Jugendämter sind überlastet, manche betreuen bis zu 80 Fälle, da verliert man schnell den Überblick, welcher Fall jetzt wirklich brenzlig ist. Und viele Kinderärzte stecken in einem Dilemma: Die Eltern sind ihre Kunden. Wenn sich herumspricht, dass ein Kinderarzt Misshandlungen anzeigt, suchen sich die Eltern vielleicht einen anderen Arzt. Oder sie lassen ihre Kinder gar nicht mehr untersuchen.

In dem Film geht die Rechtsmedizinerin sehr weit: Als sie die Mutter des toten Säuglings der Lüge überführen will, wird sie von ihr tätlich angegriffen. Haben Sie das auch schon erlebt?

Bedroht wurde ich schon, aber eher wenn es um Obduktionen im Clanmilieu ging. Was stimmt ist, dass Eltern beim Thema Kindesmisshandlung sehr viel lügen. In allen Schichten.

Ist Gewalt gegen Kinder eine Sache der Milieus?

Der Film arbeitet natürlich mit Klischees, aber ich habe das so erlebt. Wenn es Gewalt im Plattenbau in Marzahn gibt, wird eher zugeschlagen. In der Villa in Berlin-Grunewald gehen die Eltern subtiler vor, üben psychisch Druck aus, sperren ihr Kind vielleicht öfter ein. Das sieht man nicht, aber es hinterlässt auch Spuren.

Ermitteln Sie manchmal auch selbst, wie die Ärztin?

Das dürfen wir nicht, sonst machen wir uns als objektive Sachverständige unglaubwürdig. Der Drehbuchautor hat sich aus dramaturgischen Gründen dafür entschieden, das habe ich akzeptiert. Rechtsmediziner stehen eben die meiste Zeit im Obduktionssaal - das war vielleicht zu langweilig.

Trotzdem ist der Rechtsmediziner im Fernsehen geradezu allgegenwärtig - Sie haben selbst zwei Sendungen. Was fasziniert die Zuschauer so an Ihrem Job?

In Deutschland gibt es nur 220 Rechtsmediziner. Die Wahrscheinlichkeit, dass man einen von uns auf einer Party oder an der Bushaltestelle trifft und ins Gespräch kommt, geht also gegen Null. Und dann ist da natürlich der Tod in allen seinen Facetten. Solche Sendungen geben dem Zuschauer die Chance an den Tatort und in den Obduktionssaal zu gehen - ohne die schrecklichen Gerüche und Details.

Über Gewalt an Kindern wird dagegen im TV wenig geredet. Warum eigentlich?

Wir haben in Deutschland zwei Systeme hinter uns, den Nationalsozialismus und die DDR, in denen Kinder aus den Familien genommen wurden. In der Bundesrepublik ist die Familie historisch ein sehr hohes und heiliges Gut, da gibt es große Bedenken einzugreifen. Und viele glauben doch auch noch immer: Ein Klaps hat noch keinem geschadet, Eltern müssen selbst wissen, wie sie ihre Kinder erziehen. Aber das stimmt nicht. Wir reden hier ja nicht über einen Klaps, Gewalt geht jeden an.

Über was sprechen wir dann?

Jede Woche sterben drei Kinder in Deutschland. Nicht weil sie von einem Auto überfahren wurden oder im Pool ertrinken, sondern weil sie in ihrer Familie Gewalt erlebt haben. Misshandlung ist die häufigste Todesursache von Säuglingen in Deutschland, keine einzelne Erkrankung tötet mehr Babys. Die Leute wollen sich damit nicht so gerne beschäftigen, manchmal habe ich das Gefühl, sie sehen und hören lieber weg, wenn in der Nachbarschaft ein Kind schreit.

Stumme Schreie, ZDF, 20.15 Uhr.

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