Martin Walser:Die Wiese, auf der wir weiden

Alle Heiligen sind seltsam, aber sind alle Seltsamen auch Heilige? Martin Walser erfindet in seinem neuen Buch die Legende eines sinnspruchsüchtigen Mädchens - nach eigenen Tagebuchnotizen von 1961.

Von Frauke Meyer-Gosau

Sirte heißt eigentlich Gerlinde, auch ihre ältere Schwester Karla hat sich umgetauft, sie heißt jetzt Zeralda. Auf Besonderheit haben es beide Mädchen abgesehen, allerdings auf unterschiedliche Weise. Karla-Zeralda malt und fährt ihrer Schwester gern mit harschen Worten über den Mund. Sirte-Gerlinde liest und schreibt, und immer wieder verschwindet sie, zum Schrecken ihrer Mutter, für etliche Zeit aus dem Elternhaus. Ihr Vater Ludwig Zürn aber, der mit Immobilien zu tun hat und insgeheim dichtet, arbeitet an der unüberbietbaren Heraushebung Sirtes nicht nur aus der Familie, sondern aus der Masse aller gewöhnlichen Menschen: Er betreibt ihre Heiligsprechung. Dabei soll ihm der in der Einliegerwohnung des Zürn'schen Hauses einquartierte Anton Schweiger, Lehrer für Deutsch und Erdkunde, behilflich sein. Er soll die Angelegenheit bei den entsprechenden kirchlichen Gremien vorbringen und befördern, und er ist für dieses Unterfangen auch genau der Richtige, denn Anton ist Sirte, der Schönheit ihrer dunklen Augen wie ihres Halses wegen, rettungslos verfallen.

Was Martin Walser hier nach Tagebuchaufzeichnungen aus dem Jahr 1961 auf nur gut 90 Seiten zusammenbringt und der Gattung "Legende" zuordnet, kommt dem altgedienten Walser-Leser in vieler Hinsicht bekannt vor: "Mädchenleben oder Die Heiligsprechung" ist ein weiteres Buch aus dem Zürn-Komplex. 1979 stand im Roman "Seelenarbeit" zunächst der Chauffeur Xaver Zürn im Zentrum, danach, von seinem ersten Erscheinen in "Das Schwanenhaus" (1980) über "Die Jagd" (1988) bis hin zum Roman "Der Augenblick der Liebe" (2004) spielte der wenig erfolgreiche Immobilienmakler Dr. Gottlieb Zürn die Hauptrolle. Eine Ehefrau, zwei Töchter und ein Lehrer als Untermieter waren jeweils mit von der Partie.

Jetzt allerdings werden die Vorkommnisse entschieden aufs Übersinnliche hin zugespitzt: Wo Seltsames ist, soll Heiligkeit werden. Und da Anton Schweiger, glühend vor Verehrung für Sirte, als Ich-Erzähler fungiert, deuten alle Beobachtungen und Ereignisse scheinbar unwiderleglich auf deren göttliche Inspiration hin. Auch das Mädchen selbst arbeitet schließlich aktiv am Heiligsprechungsprojekt mit, und das ist auch gut so, denn für dessen Erfolg muss sie ja Wunder wirken. Dass sie dem Raben Chlodrian das Sprechen beibringt, ist schon mal ein guter Anfang. Noch viel besser aber, dass er eines Nachmittags im Familienkreis den Choral "Großer Gott, wir loben dich" zu Gehör bringen kann.

Obwohl Lehrer Schweiger der Meinung ist, das eigentliche Wunder sei Sirte selbst, weitere Beweise für ihre Heiligkeit brauche es eigentlich nicht, kommt es ihm für seine Beweisführung vor der Kirchenkommission sehr gelegen, dass ihr im nächsten Schritt sogar eine Kombination aus Martyrium und Wunder gelingt: Von einer Frau, deren Mann trunksüchtig ist und sie jeden Tag schlägt, wird Sirte dem Schläger zugeführt. Nun lässt sie sich monatelang durchprügeln - so lange, bis dem Trunkenbold mit Namen Ludwig Proll die Lust am Trinken und Schlagen schwindet und er das Mädchen in einem Brief beschwört: "Hören Sie auf, sich täglich prügeln zu lassen. Dann höre ich sofort auf zu trinken."

Leider fehlt diesem Antrag auf Heiligsprechung die entscheidende Voraussetzung

Nur zu gern würde Sirte zwar mit ihrem Martyrium fortfahren, doch gibt sie nach, und Proll beendet tatsächlich seine Trinkerei. Anton Schweiger: "Ich versuchte, ihr vorsichtig zu erklären, dass sie etwas bewirkt habe, was man ein Wunder nennen dürfe. Sie schüttelte den Kopf. Sie will kein Wunder, sie will einen Sinn für ihr Dasein." Dennoch teilt Schweiger dem "Postulator" der Kirchenkommission das Geschehene mit und folgert: "Da an dem Wunder kein Zweifel möglich ist, dürfen wir hoffen."

Noch andere seltsame, auch hässliche Dinge begeben sich in diesem Buch, etwa wenn sich Vater Zürn Kuhfladen ins Gesicht schmiert, seine Frau plötzlich schlägt oder sie "des öfteren" vergewaltigt. Kurzzeitig lustig wird es dagegen, wenn Ärzte Sirtes Zustände diagnostizieren und einer von "einer seriösen Charakterstörung" spricht, "die man zu den schizophrenen Psychosen rechnen darf", der Zahnarzt zum Schluss kommt, alles liege an einem falsch behandelten Schneidezahn, und ein "Facharzt" schließlich befindet: "Keine Heiligsprechung. Es handelt sich lediglich um eine Anorexia mentalis et nervosa."

Was das Mädchen ganz gewiss befallen hat, weiß wiederum der Leser: eine Aphorismen-Lust und -Sucht, die sich früher in Walsers "Meßmer"-Bänden niederschlugen, aber auch mehr und mehr in den erzählenden Büchern. Hier nun füllen Sinnsprüche in Gestalt von Sirtes Tagebuchnotaten Seite um Seite: "Nach jedem Zug an der Zigarette kann ich wieder schwören: Nie wieder rauchen" oder "Wir, Gott und ich, sind alles, was es gibt. Der Himmel ist die Wiese, auf der wir weiden. Gott und ich sind die Welt", und immer so weiter.

Bevor eine Entscheidung in der Frage der Heiligsprechung gefallen ist, endet das Buch. Und eigentlich bleibt danach nur eine Frage offen: Weshalb weder der "Postulator" noch die zuständige Kommission den Antragstellern mitgeteilt haben, dass vor der Anerkennung von Wundern und Martyrien zu allererst eine Grundvoraussetzung gegeben sein muss - die prospektive Heilige müsste schon eine Weile tot sein. Da dies der sinnsuchenden Sirte aber offenkundig fernliegt, fehlt Walsers Legende das lehrreiche, das Wirken Gottes bekräftigende, die Gläubigen erhebende Ende. "Ich bin ein Fleck, der trocknet", lautet des Mädchens letzter Eintrag. "Ich werde gewesen sein." Nicht anders als all wir Unheiligen auch.

Martin Walser: Mädchenleben oder Die Heiligsprechung. Legende. Rowohlt Verlag, Hamburg 2019. 94 Seiten, 20 Euro.

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