"Lieber Gott, schütze doch unsere schöne, liebe Heimat", hat Marie-Luise Schindele in fein säuberlicher Schreibschrift in ihr Tagebuch geschrieben. Mit dem Krieg stehe es gerade nicht gut, schreibt das 14 Jahre alte Mädchen, im Übrigen komme sie wegen anstehender Schulaufgaben nun doch nicht zu einer angedachten Ferienreise. Von 1943 bis 1945 hat Marie-Luise Schindele in einem Internat in Kaufbeuren Tagebuch geführt, die Einträge schwanken zwischen den Termini der Nazi-Propaganda, eigenen kritischen Gedanken und den ganz normalen Freuden und Nöten einer Jugendlichen. 2005 starb Schindele in Kempten, eine Cousine hat das Tagebuch nun dem Stadtmuseum zur Verfügung gestellt, für die Sonderausstellung "Kaufbeuren unterm Hakenkreuz. Eine Stadt geht auf Spurensuche".
Der Begriff der Spurensuche ist dabei wörtlich zu nehmen, das Stadtmuseum hat nicht einfach die Geschichte Kaufbeurens zur Zeit des Nationalsozialismus aufgearbeitet. Die Einheimischen waren aufgerufen mitzuhelfen, zeitgeschichtliche Objekte wie das Tagebuch zur Verfügung zu stellen und so die Historie nicht nur greifbar zu machen, sondern auch neu zu entdecken. Die Stadt Freiburg hat einen solch partizipativen Weg schon einmal beschritten. "Bei kleineren Städten wie Kaufbeuren ist mir so ein Ansatz nicht bekannt", sagt Museumsleiterin Petra Weber. Bei der Neueröffnung des Stadtmuseums im Jahr 2013 war Kritik an der Darstellung Kaufbeurens im Nationalsozialismus laut geworden; zu wenig erfahre man über konkrete Ereignisse vor Ort. Weber hat deshalb nachgebessert und sich mit der Historikerin Nina Lutz und der Expertin für partizipative Ausstellungen, Carolin Keim, zwei Expertinnen an die Seite geholt.
Die Anfänge der NSDAP in Kaufbeuren, Euthanasie, Zwangsarbeiter, Gegner und Befürworter des Regimes - die Ausstellung ist aufgeteilt in mehrere Stationen, die etwa mit dem Tagebuch bislang unbekannte Einblicke geben. Rosemarie Brecheisen zum Beispiel hat dem Museum einen Kleiderbügel aus dem jüdischen Kaufhaus der Gebrüder Buxbaum gespendet. "Es ist das einzig bekannte Stück, das heute noch übrig ist von dem Geschäft", sagt Lutz. Der Kaufmann Ernst Buxbaum wurde von 1933 an schikaniert in der Stadt, 1938 verhaftet und ins Konzentrationslager Dachau gebracht. Sein Bruder Emil musste in dieser Zeit das Kaufhaus auflösen und weit unter Wert verkaufen. Ernst Buxbaum nahm sich 1940 das Leben. Spenderin Brecheisen kam durch Zufall zu dem Kleiderbügel: Als Beamtin beim Postamt Kaufbeuren zog sie eines Tages in das Büro eines älteren Kollegen, der in den Ruhestand ging - im Kleiderschrank des Büros hing der Bügel, die Bedeutung wurde ihr erst später durch einen Bericht über das einstige Kaufhaus in der Lokalzeitung klar.
"Für ein Museum ist es das A und O, über Objekte zu erzählen", sagt Weber. Im Frühjahr 2018 startete das Museum seinen Sammlungsaufruf; es meldeten sich so viele Spender, dass nun gar nicht alle Gaben ausgestellt werden konnten. Der partizipative Ansatz beschränkt sich aber nicht darauf, Objekte aus der NS-Zeit aus Kellern und Speichern von Kaufbeurern zu holen. Weber, Lutz und Keim begleiteten die Konzeption der Ausstellung, sie machten die Schlussredaktion, die Bürger und vor allem zehn Kooperationspartner halfen aber entscheidend, alle Objekte aufzubereiten - darunter zwei örtliche Gymnasien. Die Schüler befragten Zeitzeugen, sie sezierten auch das Tagebuch der damals 14- bis 16-jährigen Marie-Luise Schindele. "Für uns war es spannend, mal nicht im stillen Kämmerlein zu arbeiten", sagt Historikerin Lutz.
Für die Schüler war es spannend, den Nationalsozialismus einmal aus der Perspektive einer anderen Jugendlichen zu sehen, und die Zeit über die Objekte ganz nah ran zu holen. Man sieht das an Zitaten, die das Museum schon am Eingang, aber auch in der Ausstellung zahlreich zur Schau stellt. "Erstaunlicherweise konnte ich einige Parallelen zu meinem eigenen Leben ziehen", schreibt eine Schülerin. Einer anderen ist bei der Arbeit an dem Projekt "noch einmal klar geworden, wie viel die NS-Zeit in Deutschland eigentlich zerstört hat".
Dabei hat das Museumsteam auch neue Forschungsergebnisse zutage gebracht. Dass Zwangsarbeiter unter anderem in Außenstellen des Konzentrationslagers Dachau tätig waren, ist bekannt. "Nicht erforscht ist bislang, wie viele Zwangsarbeiter bei Landwirten oder Kaufleuten Dienst tun mussten, da haben wir neue Erkenntnisse", sagt Lutz. Neben NS-Propagandamaterial hat das Museum auch ein Fotoalbum eines Funkers erhalten, der am Ostfeldzug beteiligt war. Fast touristisch hält er auf der einen Seite Bauwerke in der Ukraine fest. Auf zwei anderen Seiten hat der Mann Privataufnahmen in sein Album geklebt, die eine öffentliche Hinrichtung zeigen, die 400 jüdische Männer mitverfolgen mussten, bevor sie selbst erschossen wurden - eine auch für Historiker seltene Perspektive. Als "bunten Nachmittag" hat der Funker die Seite mit diesen Fotos überschrieben.
Museumsleiterin Weber würde Teile der Sonderausstellung, die bis Mai 2020 läuft, gerne dauerhaft zeigen. Der Trend in der Forschung, sagt Lutz, gehe ohnehin raus aus den großen Städten und lege den Fokus mehr auf ländliche Gebiete. Zeigenswert wäre dann auch der Schlusspunkt der Ausstellung, Trümmer einer Hitlerbüste, die der damalige Hausmeister auf Befehl aus dem Rathaus vor dem Einmarsch der Amerikaner in den Kieskeller des Stadtsaals warf. Sein Sohn barg die Trümmer 1988 und lagerte sie ein - bis er nun von dem Aufruf des Stadtmuseums hörte.