Vor den Lokalwahlen:Hongkong zerfleischt sich von innen heraus

FILE PHOTO: A protester throws a stone into a building at Hong Kong Polytechnic University in Hong Kong,

Während der Proteste werden Steine gegen das Gebäude der Polytechnischen Universität geworfen.

(Foto: REUTERS)

Die Proteste schlagen immer häufiger in Gewalt um - und China kann sich zurücklehnen. Doch eine Gesellschaft, die für Freiheit kämpft, darf sich nicht der gleichen Mittel bedienen wie ihre Widersacher.

Kommentar von Lea Deuber, Peking

Immer noch besetzen einige radikale Demonstranten in Hongkong eine Universität. Die Belagerung der Hochschulen kurz vor den Lokalwahlen an diesem Sonntag ist die jüngste Eskalation in den seit sechs Monaten andauernden Protesten. Die enthemmte Gewalt resultiert aus einem politischen Totalversagen in der chinesischen Sonderverwaltungszone. Verantwortlich dafür ist aber nicht allein China.

Die Menschen fordern eine Garantie für die freiheitlichen Grundrechte, die ihnen die Kommunistische Partei und die früheren britischen Kolonialherren bei der Übergabe der ehemaligen Kronkolonie zugesichert haben. Die Hongkonger haben jedes Recht, sich gegen die Unterwanderung ihres unabhängigen Systems durch den chinesischen Staat zu wehren. Bis 2047 ist Peking verpflichtet, das Hongkonger Grundgesetz zu bewahren. Die britisch-chinesische Vereinbarung ist ein völkerrechtlicher Vertrag und bei den Vereinten Nationen hinterlegt. China sagt inzwischen, das Prinzip "ein Land, zwei Systeme" betone zunächst einmal ein Land und dann zwei Systeme. Das ist Unsinn. Die Hongkonger sind zu Recht wütend.

Dass der Protest die Finanzmetropole aber in den vergangenen Wochen in ein bürgerkriegsähnliches Chaos gestürzt hat, liegt nicht nur an Peking. Anstatt auf die Ängste der Bürger einzugehen, hat die Hongkonger Regierung die eigene Bevölkerung zu lange ignoriert.

Zu der Forderung, das umstrittene Auslieferungsabkommen mit Festlandchina zurückzuziehen, sind vier weitere Forderungen hinzugekommen. Neben einer unabhängigen Polizeiuntersuchung sollen die Proteste nicht als Aufstand bezeichnet werden, es soll freie Wahlen geben und Straffreiheit für Festgenommene. Ihr Slogan lautet "fünf und nicht eine weniger". Abgesehen von der Untersuchung der Polizeigewalt sind alle Verlangen der Protestierenden fast unerfüllbar. Darunter der Anspruch, alle Demonstranten pauschal freizusprechen. Die Forderungen in ihrer Absolutheit sind ein Irrweg. Sie haben zur Radikalität vieler Demonstranten geführt. Das gefährdet längst die Ziele der Bewegung.

Peking muss sich nicht die Hände schmutzig machen

Die Hongkonger müssen wieder zu sich kommen. Die Stadt ist nicht im Krieg. Noch sind nicht alle demokratischen Mittel ausgeschöpft. Dafür muss die Bewegung aber bereit sein, Kompromisse einzugehen. Es gibt in der Stadt eine starke Zivilgesellschaft. Es gibt Akteure, die in der Lage sind, zu vermitteln. Es ist an der Zeit, dass sich die friedliche Mehrheit in Hongkong wieder stärker einmischt.

Es braucht Protest, Gewalt braucht es nicht. Zunächst wäre es deshalb notwendig, jegliche Ausschreitungen zu verurteilen. Die Heroisierung der jungen Demonstranten, die bereit sind, ihr Leben zu riskieren, hat den Konflikt verschärft. Bei den Protesten werden inzwischen systematisch Straftaten begangen. Es stimmt, dass die Polizei massiv Gewalt ausübt, diese ist vielfach unverhältnismäßig. Die Einsatzkräfte entziehen sich zugleich ihrer Verantwortung. Kritik an der Gewalt wird aber in Hongkong zur Rechtfertigung für Gegengewalt. Eine Gesellschaft, die für Freiheit und demokratische Grundrechte kämpft, darf sich nicht der gleichen Mittel bedienen wie ihre Widersacher.

Besonders schmerzhaft ist es zu sehen, dass Peking sich bisher nicht einmal die Hände schmutzig machen musste. Es befeuert den Konflikt mit der Furcht vor einem Einmarsch der Volksbefreiungsarmee, es schickt chinesische Soldaten ohne Genehmigung zu einem Protest inmitten Hongkongs und deutet an, die Unabhängigkeit der Justiz aufzuheben. China zündelt, droht und erpresst. Die erfolgreichste Strategie ist es aber, die Polizei gegen die Demonstranten marschieren zu lassen. Auf der Straße sollen sie nun einen politischen Konflikt lösen, der sich auf der Straße nicht lösen lässt.

So hassen sich die Hongkonger nun gegenseitig. Die Spaltung zwischen dem prochinesischen und dem prodemokratischen Lager ist tief wie nie. Immer häufiger kommt es zu Angriffen auf Zivilisten. Menschen werden wegen ihrer politischen Haltung überfallen und abgestochen. Hongkong zerfleischt sich von innen heraus - und Peking kann sich zurücklehnen. Teile und herrsche: von jeher eine Königsdisziplin der chinesischen Führung.

Eine Tatsache muss man sich in Hongkong klarmachen: Die teildemokratische Stadt ist für die Kommunistische Partei ein dauerhafter Stachel in ihrem autokratischen System. Ein Stachel, der sich jederzeit entzünden, jederzeit andere Teile des Landes infizieren kann. Deshalb wird die Stadt als ein Teil Chinas unter Herrschaft der Kommunistischen Partei nie frei sein. Daran ändert auch die Kritik aus dem Ausland nichts. Weder internationale Sanktionen noch Gesetze werden die Position Pekings aufweichen. Sie können helfen, den Status quo zu retten, die politische Realität ändern sie in China nicht.

In diesen Tagen wird die Polizeigewalt in Hongkong häufig mit dem Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens verglichen, auch wenn das unangemessen ist. Mit Blick auf 1989 gibt es aber eine Konstante, und das ist die Kommunistische Partei. In Peking ist der gleiche Typus von Führern in der Verantwortung wie damals. Präsident Xi Jinping stellt seinen Machterhalt über alles. Durch die anhaltenden Proteste wächst der Druck auf ihn. Für Xi geht es auch ums eigene politische Überleben. Innerhalb der Partei gibt es bereits Kritik an seinem Kurs. Die Ereignisse in Hongkong werden ihn in seiner Paranoia noch bestätigen. Präsident Xi Jinping hat angekündigt, die Knochen der Menschen, die sich für die Teilung Chinas einsetzten, zu Pulver zu zermahlen. Die Hongkonger tun gut daran, diese Warnung ernst zu nehmen. Das Prinzip "Ein Land, zwei Systeme" ist die beste Option in der aktuellen politischen Realität. Im Rahmen dieses politischen Korsetts sollten die Menschen dafür kämpfen, das Maximale zu erreichen. Schon das ist eine Mammutaufgabe.

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Protesters hold up their hands during an anti-government protest at Yoho Mall in Yuen Long, Hong Kong

Leserdiskussion
:Wie blicken Sie auf die Proteste in Hongkong?

Die Spaltung zwischen dem prochinesischen und dem prodemokratischen Lager in Hongkong ist tief wie nie. Die Gewalt der Polizei wird von Demonstranten als Rechtfertigung für Gegengewalt genutzt. Für eine Entspannung der Lage sei Kompromissbereitschaft und eine Rückkehr zu einer friedlichen Protestform nötig, kommentiert SZ-Autorin Lea Deuber.

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