Abstimmung über EU-Kommission:"Lasst uns an die Arbeit gehen"

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Ursula von der Leyen erhält Applaus im EU-Parlament. (Foto: AP)
  • Das Europaparlament hat am Mittwochmittag der EU-Kommission von Ursula von der Leyen grünes Licht gegeben.
  • Von der Leyen stellte vor der Abstimmung ihr Programm vor, einen "Neustart für Europa".
  • Sie verspricht viel für den Klimaschutz zu tun, und greift außerdem die Themen Migration und Digitalisierung auf.

Von Matthias Kolb, Brüssel

Ganz am Anfang blickt Ursula von der Leyen nach Osten. Vor genau dreißig Jahren, am 27. November 1989, hätten mutige Bürger in Prag und Bratislava die Samtene Revolution mit einem Generalstreik vorangebracht, sagt die Kommissionspräsidentin im Plenarsaal des Europaparlaments in Straßburg. Solche Erinnerungen machten klar, dass es in der EU "nicht um Regeln oder Vorschriften, nicht um Märkte und Währungen" gehe, sondern um die Menschen, die zusammenstehen für ihre Werte und den Wunsch nach Freiheit.

134 Tage, nachdem sie mit nur neun Stimmen Mehrheit gewählt wurde, nennt Ursula von der Leyen einen Spruch von Vaclav Havel als Leitlinie für die kommenden fünf Jahre. Der frühere tschechische Präsident plädierte dafür, für etwas zu arbeiten, weil es richtig sei und man davon überzeugt sei - und nicht nur, weil es Chancen auf Erfolg habe. Schnell macht die CDU-Politikerin klar, wie ehrgeizig ihr Programm ist: Es geht um einen Komplett-Umbau von Wirtschaft und Gesellschaft und daher bittet sie die 751 Abgeordneten um Unterstützung für einen "Neustart für Europa".

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Ist das wirklich ein Skandal? Einer von Ursula von der Leyens Kommissaren soll den europäischen "Way of Life" schützen. Was der EU noch fehlt: eine gemeinsame Migrationspolitik.

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Diese Unterstützung erhält sie um 12.25 Uhr. 461 Parlamentarier votieren für ihr neues Team, nur 157 stimmen dagegen. Damit kann von der Leyen am 1. Dezember die Amtsgeschäfte aufnehmen - mit einem Monat Verspätung. Die drei größten Fraktionen, also die Christdemokraten der Europäischen Volkspartei (EVP), die Sozialdemokraten und Liberalen von Renew Europe, stimmen für von der Leyen. Auch die EKR-Fraktion, zu der etwa die polnische Regierungspartei PiS gehört, erklärt ihre grundsätzliche Unterstützung. Der größte Teil der 89 Enthaltungen stammt von den Grünen. Deren Fraktionschefin Ska Keller will dies aber als Angebot verstanden wissen: "Sie werden in uns einen konstruktiven Partner finden."

Mit ihrer etwa halbstündigen Rede verfolgen von der Leyen und ihr Team zwei Ziele: Einerseits will sie erneut ihre Prioritäten als Nachfolgerin von Jean-Claude Juncker skizzieren, andererseits muss sie die 11 Frauen und 15 Männer vorstellen, die sie für die EU-Kommission ausgewählt und die schließlich, mit einem Monat Verspätung, auch die Zustimmung der Fachausschüsse des EU-Parlaments fanden. Die 61-Jährige verspricht den Abgeordneten, ihnen genau zuzuhören und hebt hervor, dass alle Kommissare in ihren Kabinetten ebenso viele Frauen wie Männer beschäftigen werden. Nun gehe es aber vor allem um eines: "Lasst uns an die Arbeit gehen."

Nach und nach arbeitet Ursula von der Leyen die großen Themen ab, die sie mit ähnlichen Argumenten erläutert wie im Juli. Sie wolle eine "geopolitische Kommission" anführen, weil die Welt mehr Europa brauche. Anders als Frankreichs Präsident Emmanuel Macron wirbt sie vehement für eine europäische Perspektive des Westbalkans: "Unsere Tür bleibt offen." Sie setze darauf, dass der neue EU-Chefdiplomat Josep Borrell es schaffe, "die Weltordnung zum Besseren hin" zu formen und Europa zu helfen, nach außen "selbstbewusst und bestimmt aufzutreten".

Klimawandel, Kampf gegen Krebs und Freihandel

Borrell ist ebenso Sozialdemokrat wie Frans Timmermans, dessen Aufgabe von der Leyen besonders hervorhebt. Der Exekutiv-Vizepräsident aus den Niederlanden wird sich um den Klimaschutz kümmern, der "existenzielle Bedeutung" habe für Europa und den Rest der Welt. "Wir haben keine Zeit zu verschwenden", ruft die CDU-Politikerin und kündigt an, dass ihr Team bald einen Europäischen Grünen Deal vorlegen werde, der zwei Dinge leisten solle: sowohl Arbeitsplätze schaffen als auch die schädlichen Emissionen reduzieren. Gerade mit Blick auf Osteuropa, wo sich viele als Europäer zweiter Klasse fühlen, sagt die Kommissionschefin: "Dieser Übergang muss gerecht und inklusiv sein, sonst wird er nicht gelingen."

Aber natürlich lobt von der Leyen auch die eigenen Parteifreunde: Der Lette Valdis Dombrovskis soll die Bankenunion vollenden und dafür sorgen, dass "die Wirtschaft den Menschen dient" - einer von vielen wolkigen Slogans, mit denen die Arbeit umschrieben wird. Der Ire Phil Hogan soll für "offenen und fairen Handel" sorgen und die Zypriotin Stella Kyriakides den Kampf gegen Krebs intensivieren - hier spricht die CDU-Politikerin davon, dass ihre Schwester während der gemeinsamen Kindheit in Brüssel an Krebs verstorben sei.

Von der Leyen sagt, sie bleibe "ein Leben lang Remainer"

In den kommenden fünf Jahren wird auch Margrethe Vestager stark im Fokus der Aufmerksamkeit stehen. Die Liberale aus Dänemark soll sich um das Megathema Digitalisierung kümmern, ohne das es keine Zukunft gebe. Hier müsse Europa aber selbstbewusst agieren: Es gelte nicht nur Innovationen zu fördern, sondern auch Standards zu setzen und die digitale Identität der Bürger zu schützen. Auch Cybersicherheit habe in diesem Kontext Priorität.

Zum Ende der Rede gibt von der Leyen nicht nur zu Protokoll, dass sie den Brexit bedauere und "ein Leben lang Remainer" bleiben werde. Sie spricht auch jenes Thema an, dass ihr Thema sehr schnell angehen wird und ebenfalls einen "Neustart" plant: die Herausforderung der Migration. Von der Leyen gibt sich überzeugt, dass weiterhin Menschen nach Europa kommen werden. "Die Migration wird nicht aufhören, sie wird uns weiter beschäftigen." Die zuständige Kommissarin Ylva Johansson werde gemeinsam mit dem Griechen Margaritis Schinas dafür werben, dass die EU zugleich ihre Außengrenzen schützt und jenen Menschen Zuflucht bietet, die internationalen Schutz brauchen.

Natürlich wisse sie, dass diese Herausforderung alles andere als leicht sei, sagt von der Leyen. Aber sie kommt zurück auf Vaclav Havel: "Wir tun es, weil wir davon überzeugt sind." Die kommenden Wochen werden zeigen, inwieweit die Mitgliedstaaten bereit sein werden, Kompromisse einzugehen und mit von der Leyen zusammenzuarbeiten. Ein ähnlich großer Test für die künftige Machtbalance ist das Ringen um den Haushalt für die Jahre 2021 bis 2027: Die EU-nächste Kommission braucht viele Milliarden, um die ambitionierten und wichtigen Ziele zu erreichen.

Von der Leyen genießt Vertrauen - zumindest am Anfang

Das Ergebnis für von der Leyen fällt sehr positiv aus: Ihr Vorgänger Jean-Claude Juncker hatte 2014 423 von 751 möglichen Stimmen erhalten, und ihr Wert von 461 liegt nur knapp unter den Werten des Portugiesen José Manuel Barroso, der 2004 und 2010 478 beziehungsweise 488 Abgeordnete von sich überzeugen konnte (damals hat das EU-Parlament noch 732 Abgeordnete).

Die Bereitschaft, die CDU-Politikerin und ihre Vorschläge ergebnisoffen zu betrachten, ist also da unter den Abgeordneten, das hat auch die Debatte gezeigt. Angesichts der schwierigen Machtverhältnisse im Europaparlament ist eine Prognose leicht zu treffen: Es werden sich in den kommenden fünf Jahren sehr unterschiedliche Koalitionen bilden, um Mehrheiten für einzelne Initiativen zu finden.

Auf Ursula von der Leyen und ihr Team kommt viel Arbeit zu, aber immerhin geht es nun endlich los, am 1. Dezember - mehr als ein halbes Jahr nach der Europawahl.

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