Zivile Heroen:Unter parzellierten Seelen

Lech Walesa als Streikführer auf der Lenin-Werft in Danzig, 1980

Ein ziviler Nachfolger des kriegerischen Heroismus: Der Arbeiterführer Lech Wałęsa in Danzig 1980, der zehn Jahre später Präsident Polens wurde.

(Foto: SZ Photo)

Dieter Thomä erklärt, warum auch Demokratien Helden brauchen.

Von Stephan Wackwitz

Der in St. Gallen lehrende Philosoph Dieter Thomä hat in seinem Leben mehr gesehen als das Innere von deutschen Hörsälen. Zum Beispiel hat er Häuser besetzt, ein Studium abgebrochen und wiederaufgenommen, als Journalist gearbeitet und eine Gastdozentur an der New School of Social Research innegehabt. Die in diesem Lebenslauf erworbene innere Weite und Interessiertheit ist seinen Büchern zugute gekommen und spiegelt sich in ihren fast provokatorisch unakademischen Themen: Vaterlosigkeit, Glück, Selbst, Selbsterzählung, Lebensgeschichte. Seine letzten beiden Bücher entwickeln eine philosophische Anthropologie des Eigensinns: "Puer robustus" brachte 2016 die politischen Qualitäten des Neinsagers und destruktiven Charakters zur Geltung. Das neue Buch "Warum Demokratien Helden brauchen. Plädoyer für einen zeitgemäßen Heroismus" stellt eine schon fast vergessene Figur der alteuropäischen Kulturgeschichte ins Scheinwerferlicht modernen Räsonnements und auf den Prüfstand demokratischer Tugendvirtuosität.

Dass es auch demokratisches Heldentum gibt und dass es gebraucht wird, ist eine starke Intuition und kulturgeschichtlich tief verankert. Eine schwarzweiße Fernsehserie nach John F. Kennedys Klassiker "Profiles of Courage" in den frühen sechziger Jahren gehört zu den intensivsten Erinnerungen des Dreizehnjährigen. Ihre konventionellen Bilder wurden später überblendet durch Gary Coopers Hut, Weste, Revolver, Gesicht in Fred Zinnemanns "High Noon". Und sie stiegen wieder auf in der kollektiven Erinnerung meiner Generation, als Lech Wałęsa 1980 auf den Schultern seiner Kollegen über die Lenin-Werft getragen und Nelson Mandela 1994 zum Präsidenten Südafrikas gewählt wurde.

Es gilt, eine gefährdete Ordnung durch risikoreiche Intervention zu befestigen und voranzutreiben

Politischer Eigensinn hatte in diesen Heldenbiographien die Massen einfacher polnischer und südafrikanischer Mitmenschen ergriffen und war von ihnen zum Sieg über Rassen- und Klassentotalitarismen getragen worden. Nun konnten die Mühen der demokratischen Ebene beginnen. Wie der undemokratische (der kriegerische) Held ist der demokratische eine Figur der Souveränität, der einsamen Dezision, der inneren Unabhängigkeit, des Selbstopfers für andere und des unabsehbaren Risikos.

Thomä muss viel Raum, Beredsamkeit und Scharfsinn aufwenden, um Möglichkeit und Legitimität demokratischen Heldentums gegen vorab zu Recht erwartete Einwände und Angriffe von liberaler und linker Seite zu verteidigen. Er präpariert die heroischen Charakterzüge sorgfältig aus ihrem ursprünglichen - dem martialischen - Kontext heraus. Eigensinn, Uneigennützigkeit, Memorabilität, Risikobereitschaft, Weitsicht, Resilienz, Hilfsbereitschaft erweisen sich, zivil umkodiert und sozusagen"säkularisiert", als unverzichtbar für Demokratien. Denn diese sind stabil-instabile, von Beginn an experimentelle Gesellschaften, zu denen Krisen und Entscheidungssituationen per definitionem gehören.

Mit seinem dekonstruierenden Verfahren erweist sich Dieter Thomä als Schüler Max Webers. "Der Held betritt als Gegenspieler der Bürokratie die Bühne", schreibt er und zitiert den Bürokratietheoretiker, der 1909 dafür plädierte, dem von "Ordnungsmenschen" bewirtschafteten stählernen Gehäuse der verwalteten Welt heroische Dispositionen entgegenzusetzen "um einen Rest des Menschentums freizuhalten von dieser Parzellierung der Seele, von dieser Alleinherrschaft bureaukratischer Lebensideale".

In einer der überzeugendsten Passagen seines Buchs zitiert Thomä die zahllosen, einander zum Teil konträr widersprechenden Deutungen und Umdeutungen der Heldengestalt des Odysseus als Beleg für die Plastizität und Universalität dessen, was wir das Heldische nennen und auf das weder Moderne noch liberale Gesellschaft verzichten können.

Thomä ist auch eine bildungssoziologisch interessante Gestalt. Er verkörpert in der Gegenwart einen Typus des publikumsfreundlichen, aber fachlich bewährten und bewanderten philosophischen Schriftstellers, der mit Ralph Waldo Emerson (den Thomä in seinem Heldenbuch oft und zustimmend zitiert) in den USA des frühen neunzehnten Jahrhunderts die Bühne betrat, in den frühen Jahren des zwanzigsten in Deutschland im vergessenen kulturkritischen Werk Walther Rathenaus wiederauftauchte und in den Achtzigern mit dem Frühwerk Peter Sloterdijks, den kleinen politischen Schriften von Jürgen Habermas und einigen wohlplatzierten Provokationen Niklas Luhmanns publikumswirksam wurde. Dieser Schriftstellertypus scheint aufzutreten, wenn lang herrschende Ideen verteidigt oder neu betrachtet werden müssen: der sensualistische Empirizismus der "Harvard Divinity School" im Amerika der 1830er Jahre, der 68er-Impuls um 1980 herum. Und heute ist es die Idee des Liberalismus selber, die von mächtigen politischen und intellektuellen Bewegungen unter Beschuss genommen wird. Wenn es, wie Thomä plausibel machen kann, die Aufgabe des Helden ist, eine gefährdete Ordnung durch eine risikoreiche Intervention zu befestigen oder weiterzuentwickeln, dann hat "Warum Demokratien Helden brauchen" durchaus selber einen heroischen Aspekt.

Dieter Thomä: Warum Demokratien Helden brauchen. Plädoyer für einen zeitgemäßen Heroismus. Ullstein Verlag, Berlin 2019. 272 Seiten, 20 Euro.

Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: