Entschädigungsrecht:Mehr Fürsorge für Gewaltopfer

25 Jahre nach Solinger Brandanschlag

Solingen, vor 26 Jahren. Die Opfer des rechtsextremen Brandanschlages hatten keinen Anspruch auf Entschädigung. Diese Schieflage ändert sich mit dem neuen Gesetz.

(Foto: Franz-Peter Tschauner/dpa)

Der Bundesrat verabschiedet ein Jahrhundertgesetz: Endlich werden bei Gewalttaten auch die Ansprüche der Opfer berücksichtigt. Hoffentlich endet damit endlich die Fixierung auf die Täter.

Kolumne von Heribert Prantl

Warum trägt Justitia eine Augenbinde? Die landläufige Erklärung lautet: Auf diese Weise soll gezeigt werden, dass sie ohne Ansehen der Person Recht spricht. In Wahrheit ist es anders: Sie schämt sich. Und dafür gibt es triftige Gründe. Sie schämt sich dafür, wie der Staat mit Opfern von Gewalt und Terror umgeht. Sie schämt sich dafür, dass der Staat die Opfer von Gewalt und Terror bestiehlt. Er steckt nämlich das Geld, das eigentlich den Opfern zusteht, selber in die Tasche. Die Geldstrafen verschwinden irgendwo im Haushalt des Fiskus; bei den Opfern von Straftaten kommt nicht einmal ein Teil dieses Strafgeldes an, und zwar auch dann nicht, wenn der Täter noch keinen Euro an Wiedergutmachung bezahlt hat.

Die Opfer von Straftaten werden bisher nicht gut behandelt in Deutschland. Im deutschen Rechtsstaat ist es so: Der Straftäter büßt mit Gefängnis oder Geldstrafe, der Staat kassiert von ihm die Geldstrafe - und das Opfer leidet. Es muss sehen, wo es bleibt. Das war und ist die Rollenverteilung im deutschen Recht.

Es gibt zwar seit 1976 ein sogenanntes Opferschutzgesetz in Deutschland, aber dieser Schutz ist sehr unzulänglich konzipiert. Der Schutz für Opfer von Straftaten basiert auf einem Recht, das völlig andere Sachverhalte regelt; er basiert auf dem Gesetz für die Versorgung von Kriegsopfern und ihren Hinterbliebenen aus dem Jahr 1950. Das ist ein Konzeptionsfehler von Anbeginn. An sich liegt dem Opferschutzgesetz ein ganz wichtiger und ganz richtiger Gedanke zugrunde: Der Staat muss für die gesundheitlichen Schäden des Opfers einer Gewalttat einstehen, weil er es nicht vermocht hat, diesen Menschen vor einem gewaltsamen Angriff zu bewahren. Der Staat muss also die Folgen seines Versagens finanziell ausgleichen. Das ist die Grundidee.

Die Strafrechtsgeschichte ist eine Geschichte der Verdrängung des Opfers aus dem Strafverfahren

Die Praxis dieses Opferschutzgesetzes sieht so aus: Das Opfer muss sich mit kleinlichen, unübersichtlichen, mit frauenfeindlichen und kinderfeindlichen Paragrafen herumschlagen, mit Paragrafen, die alles verdienen, nur das Wort Großzügigkeit nicht. Diese Paragrafen führen dazu, dass Anträge auf Entschädigung sehr viel öfter abgelehnt als genehmigt werden. Warum? Gewalt im Sinne des Opferschutzgesetzes ist nur die tätliche Gewalt, nicht die psychische Gewalt. Stalking zum Beispiel fällt nicht darunter, sexueller Missbrauch auch kaum. Und die Opfer von ausländerfeindlichen Angriffen fallen auch nicht unter das Opferschutzgesetz; als anspruchsberechtigten Bürger betrachtet das Gesetz nämlich nur den Deutschen und den EU-Ausländer. Für die Opfer der Anschläge von Hünxe, Mölln und Solingen und für ihre Angehörigen gab es daher keine Entschädigungsleistungen nach diesem Gesetz.

Eine Geringschätzung der Opfer war und ist nicht nur ein Manko des Opferentschädigungsgesetzes von 1976. Der Grundfehler ist schon viel, viel älter. Es ist dies ein Jahrhundertfehler, ja ein Jahrtausendfehler: Die Strafrechtsgeschichte ist eine Geschichte der Verdrängung des Opfers aus dem Strafverfahren. Das Opfer, so sahen es die Juristen bis in die jüngere Zeit, stört im Strafverfahren nur den ordnungsgemäßen Ablauf der Dinge. So ist es seit der Abschaffung der Privatfehde, also seitdem die Strafverfolgung Sache des Staates ist und nicht mehr Sache des Opfers und seiner Sippe.

Natürlich muss die Strafverfolgung Sache des Staats sein und bleiben, aber der Gründungsfehler der staatlichen Strafverfolgung muss beseitigt werden: Sie achtet das Opfer zu wenig. Es war und ist zwar richtig, dass Rache- und Vergeltungsbedürfnisse des Opfers in einem Rechtsstaat kanalisiert und zum Teil frustriert werden müssen. Aber ein Rechtsstaat muss sich schon dem Opfer fürsorglich zuwenden; das gehört zur Rechtsstaatlichkeit.

Das geschieht jetzt endlich. Es geschieht in einem Gesetz, das vom Bundestag Anfang November und nun am Freitag auch im Bundesrat verabschiedet worden ist. Dieser Freitag ist deshalb ein historischer Tag: Die Geringschätzung des Opfers wird nun - hoffentlich - umfassend beendet, der Gewaltbegriff wird neu definiert, sexueller Missbrauch und Stalking werden als entschädigungspflichtig anerkannt, die Geldleistungen und Geldrenten für Opfer werden erhöht. Und auch Angriffe mit Kraftfahrzeugen sind künftig entschädigungspflichtig (der Lkw-Anschlag auf den Weihnachtsmarkt am Breitscheidplatz in Berlin im Jahr 2016 war ja ein Auslöser für das neue Recht).

Wichtig ist, dass nicht nur der Staat die Opfer in Zukunft achtet - sondern auch die Öffentlichkeit

Die neue Achtung des Opfers geschieht zwar nicht in einem Strafgesetz, sondern in einem Sozialgesetz, das im Haus des SPD-Ministers Hubertus Heil ausgearbeitet worden und das auf die Zustimmung aller Parteien (die AfD ausgenommen) gestoßen ist; aber das neue Gesetz wird, hoffentlich, auf das Strafrecht und dessen Sicht auf die Opfer ausstrahlen. Das "Neue Soziale Entschädigungsrecht" wird ins SGB XIV geschrieben, ins vierzehnte Sozialgesetzbuch also. In der laufenden Chronologie müsste es eigentlich das dreizehnte Buch werden, aber das Haus Heil hat auf die abergläubischen Gefühle Rücksicht genommen. Es hat leider auch auf die Sparfuchserei der Länder Rücksicht genommen: Der größte Teil des neuen Rechts tritt daher erst 2024 in Kraft.

Wichtiger als die Nummerierung des neuen Gesetzes mit 13 oder 14 ist es, dass die Behörden das neue Recht nach dem Grundsatz "Im Zweifel für das Opfer" umsetzen. Wichtig ist es, dass das Opfer künftig einen staatlichen Fallmanager zur Seite gestellt bekommt, der/die ihm im Umgang mit den Behörden hilft.

Und wichtig ist es, dass künftig nicht nur der Staat die Opfer achtet - sondern dass das auch die Öffentlichkeit und die Medien tun: Das Opfer muss nach der Tat nicht, womöglich gedrängt von geldfixierten Anwälten, sein Leiden zum Lesen und Betrachten im Internet, in Talkshows und Magazinen zur Verfügung stellen. Die Erniedrigung, die der Täter dem Opfer angetan hat, muss nicht noch ausgewalzt und multipliziert werden. Das Schicksal des Opfers ist es nicht, einer Maschinerie als Objekt zur Verfügung stehen zu müssen - nicht der Justiz, aber auch nicht einem angeblichen öffentlichen Interesse an der Befriedigung von Neugier, Mitleid und Sensationsgeilheit.

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Kolumne von Heribert Prantl

Heribert Prantl ist seit 1. März 2019 Kolumnist und ständiger Autor der Süddeutschen Zeitung. Zuvor leitete er das Ressort Meinung sowie die Innenpolitik und war Mitglied der Chefredaktion. Alle seine Kolumnen finden Sie hier.

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