Nach Terrorangriff:Großbritannien hat ein neues Wahlkampfthema

Nach Terrorangriff: Der britische Premierminister Boris Johnson, die Innenministerin Priti Patel und Londons Polizeichef Cressida Dick, besuchen den Tatort der Messerattacke.

Der britische Premierminister Boris Johnson, die Innenministerin Priti Patel und Londons Polizeichef Cressida Dick, besuchen den Tatort der Messerattacke.

(Foto: AP)

Bisher hat der Brexit den Wahlkampf dominiert. Doch nach der Messerattacke eines verurteilten Terroristen beginnt eine Debatte über vorzeitige Haftentlassungen.

Von Alexander Mühlauer, London

Am Samstagnachmittag war Boris Johnson am Tatort. Der Premierminister passierte die Absperrungen an der London Bridge, um den Polizisten und Bürgern am Schauplatz der tödlichen Attacke für ihren tapferen Einsatz zu danken. Nachdem er noch einmal gesagt hatte, was gesagt werden musste, versprach er, die Strafen für schwere Delikte zu verschärfen. Er habe schon seit Langem argumentiert, dass es ein Fehler sei, Schwerverbrecher vor Ablauf ihrer Haftstrafe aus dem Gefängnis zu entlassen, erklärte Johnson. Die Terrorattacke an der London Bridge habe gezeigt, dass dies "einfach nicht funktioniert".

Johnson dürfte damit das ausgesprochen haben, was die Mehrheit der Briten am Tag nach dem Anschlag denkt. Der Attentäter Usman Khan, der am Freitag zwei Menschen nahe der London Bridge getötet hatte, war ein verurteilter Terrorist, der vorzeitig auf Bewährung freigekommen war. Nun ist in Großbritannien eine Debatte über die routinemäßige vorzeitige Entlassung von Häftlingen entbrannt. Viele Briten fragen sich, warum das offenbar gängige Praxis in ihrem Land ist. Der Streit darüber dürfte auch zu einem Hauptthema im Wahlkampf werden. Die Briten wählen am 12. Dezember ein neues Unterhaus.

Auch wenn sich meisten Spitzenpolitiker am Tag nach dem Anschlag mit gegenseitigen Anschuldigungen zurückhielten, gab es bereits einige Stimmen, die darauf hindeuten, dass die Debatte nicht so schnell beendet sein wird. So hinterfragte etwa der Londoner Bürgermeister Sadiq Khan von der oppositionellen Labour-Partei, ob den zuständigen Behörden ausreichend Mittel zur Verfügung hätten, um gefährliche Personen zu überwachen. Der Chef der Brexit-Partei, Nigel Farage, bezeichnete das als "Nonsense". Neben der Ausstattung von Polizei und Terrorabwehr, dürfte auch die Frage, warum Innenministerin Priti Patel die Terrorbedrohungsstufe vor wenigen Wochen zum ersten Mal seit zwei Jahren gesenkt hatte, das Land weiter umtreiben. Patel begleitete Johnson am Samstag an den Tatort.

Am Samstagabend reklamierte die Terrormiliz IS den Anschlag über eines ihrer Sprachrohre für sich, ohne Details mitzuteilen. Zuvor wurden nach und nach immer mehr Hintergründe über den Attentäter bekannt. Usman Khan, 28, war britischer Staatsbürger, er wohnte in Staffordshire. Seine Eltern stammen aus dem von Pakistan besetzten Teil Kaschmirs. Britischen Medienberichten zufolge hatte er bereits einen Anschlag auf die Londoner Börse geplant, bevor er 2012 wegen terroristischer Aktivitäten zu 16 Jahren Haft verurteilt wurde. Im pakistanischen Teil Kaschmirs wollte er außerdem ein Trainingscamp für Terroristen aufbauen. Doch bereits im Dezember 2018 ist er nach Angaben der Polizei wieder auf freien Fuß gekommen. Seitdem trug er offenbar eine elektronische Fußfessel.

Nach Mittätern fahndete die Polizei zunächst nicht. Es werde aber mit Hochdruck ermittelt, um herauszufinden, ob weitere Personen an der Tat beteiligt waren, hieß es in einer Mitteilung von Scotland Yard. Eine Wohnung in der Grafschaft Staffordshire in Mittelengland wurde im Rahmen der Ermittlungen durchsucht. Die Polizei teilte mit, dass die umfangreichen Absperrungen um die London Bridge noch einige Zeit beibehalten würden. Die Öffentlichkeit solle die Gegend meiden.

Unterdessen zeichnete die Polizei den Tathergang immer deutlicher nach. Der terroristische Angriff begann demnach am Freitag in der Fishmonger's Hall, wo der Attentäter an einer Konferenz über Resozialisierung der Universität Cambridge teilgenommen hatte. Der Titel der Veranstaltung lautete "Learning Together". Berichten zufolge soll Usman Khan damit gedroht haben, die Fishmonger's Hall, die ehemalige Halle der Fischhändler-Gilde in der City of London, in die Luft zu sprengen. Dort soll er dann begonnen haben, auf Menschen einzustechen.

Britischen Medienberichten zufolge wurde er daraufhin von einer Reihe von Männern in Richtung London Bridge verfolgt. Einer versuchte, dem Attentäter mit einem Feuerlöscher ins Gesicht zu sprühen, ein anderer hatte sich den Stoßzahn eines Narwals geschnappt, der in der Gilde-Halle als Verzierung an der Wand hing. Gemeinsam soll es ihnen gelungen sein, dem Attentäter zwei Messer zu entwenden, die er mit Klebeband an seiner Hand befestigt hatte. Die Zeitung The Times berichtete unter Berufung auf Augenzeugen, dass es sich bei dem Mann mit dem Narwal-Stoßzahn um einen polnischen Koch handelte, der in der Fishmonger's Hall arbeitet. Polizisten trennten schließlich die ringenden Männer und schossen auf Usman Khan. Der Attentäter trug einen Sprengstoffgürtel, der sich allerdings als Attrappe herausstellte.

An diesem Sonntag will sich Premierminister Johnson den Fragen von BBC-Journalist Andrew Marr stellen. Inwieweit der Anschlag an der London Bridge das bisherige Hauptwahlkampfthema Brexit in den Hintergrund rücken lässt, wird sich dann zeigen. Fragen gibt es jedenfalls genug. So berichtete etwa die Zeitung The Guardian, dass der Richter bei Usman Khans Verurteilung dessen Pläne als "ernsthaftes, langfristiges Projekt" bezeichnet hatte. Er soll auch davor gewarnt haben, dass der Mann ein dauerhaftes Risiko für die Öffentlichkeit darstellen könne. Usman Khan habe zu neun Extremisten gehört, die 2012 verurteilt worden seien. Er sei damals der Jüngste der Gruppe gewesen. Ursprünglich sollte Usman Khan nicht wieder freigelassen werden, es sei denn, er werde nicht mehr als Bedrohung angesehen. Laut dem Guardian-Bericht sei diese Bedingung allerdings später aufgehoben worden.

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